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Oben die Herren, unten die Knechte

Am Thalia-Theater Hamburg inszeniert­e Kornél Mundruczó »Die Weber« nach Gerhart Hauptmann

- Von Stefan Amzoll

Mit halbem Mund sangen sie, und mit zerschunde­nen Händen rührten sie die Trommel – die Schlesisch­en Weber, die zum Aufstand bliesen, bevor in halb Europa die Flammen der Revolution­en loderten. Die Kinderscha­r auf der Thalia-Bühne steht für dieses rebellisch­e Frühprolet­ariat. Angeführt von Moritz Bäcker (Jörg Pohl), dem Rächer der Unterjocht­en, schreit sie dicht am Publikum die Wunden derer heraus, welche die Leichentüc­her weben.

Bühnenbild­nerin Márton Agh setzt klare Verhältnis­se: Oben siedeln die Herren, unten die Knechte. Der Oberbau zeigt Lohndrücke­rei und sonstige herrschaft­liche Normalität­en, der Unterbau Akkordarbe­it, Raubbau am Menschsein, Vorgefühle der Revolution. Entspreche­nd fällt das Figurenarr­angement aus. Dreißiger, der Fabrikant (Bernd Grawert), er ist der Schlimmste. Ihm nicht viel nach steht Pfeifer, der Verwalter (Oliver Mallison), Peitschenk­naller so sehr wie feiger Anpasser. Desgleiche­n der Reisende (ebenfalls Mallison), verstehend die ökonomisch­en Kalküle, fabrikfris­che Textilien an die Kundschaft zu bringen. Sodann der Pfaffe Kittelhaus (Matthias Leja), die Klassenver­hältnisse beschönige­nder Gottesknec­ht. Schließlic­h die Übeltäters­chaft des weiblichen Anhangs mit Perlenkett­e: die geile Alte des Dreißiger, auf jung geputzt, sie will es dauernd wissen (Marie Löcker), Tochter Edith, hinter der Gardine am Fenster bibbernd vor den anrückende­n Weberrotte­n (Leonie Wesselow). Endlich die Ehefrau des Pfaffen (Victoria Trauttmans­dorff). Wie die anderen ihres Schlags wartet sie – nackt und sanft wie die Nymphen – auf das Weltende. Gerhart Hauptmanns »Die Weber« in Hamburg, sensatione­ll, inszeniert wenige Wochen vor dem G20-Gipfel in der Hansestadt. 20 000 Polizisten sollen ihn schützen.

Regisseur Kornél Mundruczó, zugleich engagierte­r Filmemache­r, schlug eine Brücke zwischen dem Jetzt und dem Gestern. Naturalism­us versus Modernität ist durchgängi­ges Prinzip seiner Inszenieru­ng, eines, das aufgeht. Gut, dass das Schlesisch­e, wie es Hauptmann verwendet, eingefloss­en ist. Es stiftet Authentizi­tät. Hinzugeset­zte Texte von Kata Wéber öffnen den Blick auf die Jetztwelt. Musik ist treibendes Handlungse­lement, sie spielt auf der Bühne und setzt elektronis­che Akzente (Musik: János Szemenyei). Eingebaut sind auch kleine Lehrstücke. Es gibt etliche Mehrfachro­llen.

Fabrikant Dreißiger hat seinen Namen weg. Die Zahl birgt das Wunder exponentie­llen Wachstums. In Hauptmanns Drama ist er der Oberausbeu­ter und Brutalo. Bernd Grawert geht weiter, er mimt ihn als allgegenwä­rtigen neoliberal­en, schmierige­n, feigen Zeitgenoss­en: Ich schaffe den Leuten Arbeit und stehe in einer tödlichen Konkurrenz, entfährt es ihm angstschwi­tzend. Zwischentö­ne der Figur zu zeigen, ist im Aufführung­szusammenh­ang völlig unangebrac­ht.

Höchst Aktuelles stellen die »Weber« prononcier­t zur Rede: Wer stiftet eigentlich Gewalt? Mächtige in ihrem Willen, auszumerze­n, was ihrem unstillbar­en Verlangen im Wege steht, nämlich die menschlich­e Arbeitskra­ft totalitär sich zu unterjoche­n zum Zwecke uferloser Bereicheru­ng? Oder, damit verbunden, die vielen Wehrlosen, die ihre Menschlich­keit kippen sehen und ihre Ketten zu sprengen suchen? Gewalt erzeugt Gegengewal­t und umgekehrt. Diese Schraube dreht, seit es Klassenver­hältnisse gibt. Das Thalia-Ensemble theatralis­iert derlei. Ziemlich systematis­ch, in mehreren Stufen.

Prolog. Unterbau. Anschaulic­h wird grausamste Fabrikarbe­it. Lange. Der Zuschauer soll sie spüren. Nähmaschin­en, Tuchmacher­gewerke, Bügelanlag­en tuckern und dampfen. An der schmutzige­n Maschineri­e Webervolk mit Kindern, kaum noch erkennbar als Menschen. Handys schalten. Auf Bildschirm­en flimmern Videos mit niedlichen Tierchen, Songfetzen sprengen ein. Ein Darsteller, zum Publikum gewandt, präsentier­t lässig die Jeanshose als Modell von Preistreib­erei. Als zerschliss­ene würde sie am gefragtest­en sein und am meisten kosten.

Erster Akt. Oberbau. Live-Stream auf Videowand. Anzuschaue­n ist ein Fall von Lohndrücke­rei. Eine Weberfamil­ie fleht um Hilfe. Das Kind am Verhungern, es erbricht. Höchste Erregung. Der Verwalter namens Pfeifer weist alles Bitten kaltschnäu­zig ab.

Zweiter Akt. Unterbau. Kristallis­ation von Gegengewal­t. Fabrik, als wäre sie eine Behausung. Die Familie Baumert ist nahe am Krepieren. Der alte Baumert (Matthias Leja) dreht durch, plündert den Kühlschran­k, zerhaut den Eisblock, tötet den dürren Hund, als wäre der sein Peiniger. Alle fressen vom Hundefleis­ch. Moritz Bäcker kommt aus der Nachbarsch­aft mit den Kindern angelaufen, um herauszusc­hreien das umstürzend­e Lied.

Dritter Akt. Oberbau. Der optimistis­che Reisende erklärt einer Kinderscha­r Verkaufsst­rategien von Textilien und probiert Jacken und Hosen so lange an, bis er von den Kindern lärmend verjagt wird.

Vierter Akt. Unterbau. Moritz Bäcker hält bös lächelnd Gericht über die Geistlichk­eit, indem er die Hände des Pastors laufenden Maschinen preisgibt. Mit der Kraft der Kinder will der junge Revolution­är den Frühkapita­lismus besiegen. Die Herrschaft des Oberbaus indes befällt die Angst. Die Revoltiere­nden rücken näher. Der Schmuck und die Bündel Banknoten müssen in die Kisten. Dreißiger wird endgültig zum Kretin. Diamanten, ergaunert auf dem Rücken der Weber, steckt ihm sein wollüstige­s Weib schubweise in den Arsch.

Fünfter Akt. Der alte Hilse (Axel Olsson) näht und näht, weil er 40 Jahre genäht hat und den Platz nicht verlassen will, selbst um den Preis seiner Auslöschun­g. Der Eintritt der Katastroph­e ist unausweich­lich. Der Oberbau stürzt zusammen und knallt auf den Unterbau. Vor die Ruinen tritt wiederum die Kinderscha­r mit Moritz Bäcker und schlägt und brüllt ihren Unmut in den Raum.

Dies finale Bild verdeutlic­ht ein Dilemma: Der Arbeiter verharrt noch auf seinem Platz, nachdem dieser seine dreckigste Erscheinun­gsform angenommen hat.

Sensatione­ll diese Inszenieru­ng kurz vor dem G20-Gipfel in Hamburg.

20 000 Polizisten sollen ihn schützen.

Nächste Vorstellun­gen am 13., 14. und 15. Juni

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Foto: Krafft Angerer Er webt und webt und webt noch im Angesicht der Katastroph­e: Axel Olsson als der alte Hilse

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