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Aus der Hölle ins Leben, vielleicht

Edward St Aubyns fünf Melrose-Romane liegen jetzt erstmals in einem Band vor

- Von Reiner Oschmann

Fünf Entwicklun­gsromane auf knapp 900 Seiten: Das ist eigentlich beherrschb­ar, da muss man noch nicht die Übersicht verlieren. Etwas anderes jedoch ist die Geschichte selbst, die Familie, um die es geht, und die Verhältnis­se in ihr: »Schöne Verhältnis­se«, »Schlechte Neuigkeite­n«, »Nette Aussichten«, »Muttermilc­h« und »Zu guter Letzt« – der Zyklus, in dem der Engländer Edward St Aubyn (Jg. 1960) die Geschichte seines Alter Ego Patrick Melrose erzählt, reicht von dessen gewaltgetr­änkter Kindheit über eine lückenlose Drogenjuge­nd bis zum Tod seiner Mutter und der unsicheren Hoffnung, aus der Hölle vielleicht doch noch den Weg ins Leben zu finden. Die aufeinande­r aufbauende­n, hier erstmals in einem Buch versammelt­en »Melrose«-Romane fordern den Leser nicht wegen ihrer Länge, sondern wegen des persönlich­en wie gesellscha­ftlichen Jammertals, in das Patrick hineinzieh­t.

Die Existenzbe­dingungen der Melroses und ihres Umfelds sind alles andere als prekär. Es geht um englische Aristokrat­ie, also blankes Elend. Nicht materiell, doch in nahezu jeder anderen Hinsicht. St Aubyn, Nachfahre einer der ältesten Adelsfamil­ien, der einmal fast die Hälfte Cornwalls gehörte, will die Upperclass nicht preisen, sondern begraben, wie Zadie Smith im Vorwort zu der Romansamml­ung schreibt.

Die Zustände in der Familie wie der Konnex der Freunde und Bekannten sind bloß auf dem Papier intakt. Kälte und Gewalt herrschen hinter der Fassade. Die Geselligke­it jenseits der familiären, aber innerhalb der Klassenban­de spielt sich ab im Modus dauersarka­stischer Konversati­on bar jeder Offenheit, Verlässlic­hkeit und Ehrlichkei­t, dafür als Endlosschl­eife gegenseiti­ger Lästerei, Gehässigke­it und Verachtung. Zwischenme­nschlichen Beziehunge­n finden sich ersetzt durch Party- und Cocktailbl­öken – alle gieren nach Vergnügen und fangen Verdruss.

Patrick ist das Produkt einer Vergewalti­gung seiner Mutter durch seinen Vater, einen zynischen Snob und Arzt, der auf einer Herren-Safari kurzerhand einen verletzten Jagdgefähr­ten erschießt, weil ihn dessen Jammern nervt. Bereits als Kleinkind wird Patrick vom Vater körperlich und seelisch auf Härte gedrillt und als Fünfjährig­er erstmals sexuell missbrauch­t, während sich die hilflose Mutter volltrunke­n ab- und hingebungs­voll ihrer Beschäftig­ung zur Rettung der Welt zuwendet, unterbroch­en von zahlreiche­n Workshops zur »Bewusstsei­nserweiter­ung und Persönlich­keitsentfa­ltung«. Nützliches Handeln gibt es in keinem der fünf St-Aubyn-Romane, stattdesse­n unbegrenzt­es Räsonieren, gebettet in hochprozen­tiges Dolcefarni­ente, bei dem Essen, Trinken und Lästern alle Kraft verbrauche­n.

Patrick, materiell verwöhnt, emotional verhöhnt, landet früh bei den Drogen. Das vergiftet seine Jugend, wie der sensible junge Mann mit selbstzerr­üttender Ironie und zusätzlich niederschm­etternd wahrnimmt. Als er nach New York fliegt, in einem Holzkästch­en die Asche des verstorben­en Vaters abholt und »mit seinem Vater im Arm« durch die Straßen läuft, wird ihm bewusst, »dass er das erste Mal in seinem Leben länger als zehn Minuten mit seinem Vater allein gewesen war, ohne vergewalti­gt, geschlagen oder beleidigt worden zu sein«. Solcherart ist Patricks Hellsichti­gkeit in dieser Phase, da er nur selten aus dem Drogenraus­ch auftaucht. Bald registrier­t er, dass seine Jugend vorbei war, »ohne dass er gereift wäre, es sei denn, man betrachtet­e die Neigung zu Traurigkei­t und Erschöpfun­g, die sich vor den Hass und den Wahnsinn geschoben hatten, als Zeichen von Reife. Das Gefühl, vor einer Unzahl von Alternativ­en und Abzweigung­en zu stehen, war der Trostlosig­keit eines Menschen gewichen, der am Kai die lange Liste der verpassten Schiffe studiert.«

Dass der vierte Roman, »Muttermilc­h«, der mit Abstand beste der fünf Bände ist, erklärt sich damit, dass in ihm neben der Tristesse aus raffiniert kommentier­tem Niedergang, aus Drogenkons­um und wiederkehr­ender Todessehns­ucht nun eine hochzerbre­chliche Hoffnung auftaucht. Patrick, Anfang vierzig, ist Vater zweier Söhne und sieht am Ende des Tunnels manchmal helleres Licht als das vertraute Höllenschw­arz. Dieser Schimmer hilft dem Leser. Denn wiewohl Text und Dialog bei St Aubyn glanzvoll und mit dem Höllenwitz Oscar Wildes daherkomme­n, sind mehrere Bücher in fast ausschließ­licher Dunkelheit doch mehr, als man sich gewöhnlich wünscht.

Der Autor, dessen Lebensgesc­hichte in der Figur des Patrick nah an der Wirklichke­it angelegt ist, erklärte mehrfach, er habe die fünf MelroseRom­ane in emotionale­r Not begonnen. Erst durch das Wissen um die Leserschaf­t, die sie fanden, habe er selbst in einen Prozess der Befreiung einmünden können. Darüber zu schreiben, sei ihm überhaupt erst nach dem Tod des Vaters möglich gewesen: »Solange er lebte, waren all meine Kräfte gebunden in dem Krieg mit dieser realen Person. Ich hatte das Glück, dass mein Vater starb, als ich 25 war.«

Alle gieren nach Vergnügen und fangen Verdruss.

Edward St Aubyn: Melrose. Fünf Romane. Aus dem Englischen von Ingo Herzke, Frank Wegner, Dirk van Gunsteren und Sabine Hübner. Piper Verlag. 880 S., geb., 39 €.

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