nd.DerTag

»Maduro will eine simulierte Demokratie«

Der kritische Chavist Gonzalo Gómez über die tiefe Krise in Venezuela und mögliche Auswege

-

Herr Gómez, seit Anfang April erlebt Venezuela fast täglich Proteste. Droht eine weitere Eskalation? Sowohl Regierung als auch Opposition setzen auf Konfrontat­ion, aber niemand kümmert sich um die Probleme des Landes und der Bevölkerun­g. Die Politiker glauben anscheinen­d, dass ihnen dieser Faustkampf am Ende Vorteile für eine mögliche Verhandlun­gslösung verschafft. Dies könnte zu einer sozialen Explosion führen, die weit über die opposition­snahen Sektoren hinaus geht.

Marea Socialista hat sich bereits 2014 von der Vereinten Sozialisti­schen Partei PSUV abgespalte­n. Warum haben Sie mit der Regierung gebrochen?

Man muss die Regierung vor allem aufgrund ihrer konkreten Politik und nicht aufgrund des Diskurses oder ihrer Herkunft einordnen. In der Praxis betreibt Maduro eine konterrevo­lutionäre Politik, die durch eine linke, antiimperi­alistische und gegen die Bourgeoisi­e gerichtete Sprache verschleie­rt wird. Die Regierung zieht die Repression dem Dialog vor, wird immer autoritäre­r und will die partizipat­ive und protagonis­tische Demokratie durch eine simulierte Demokratie ersetzen.

Was meinen Sie mit simulierte­r Demokratie?

Die Kunst besteht darin, eine breite Partizipat­ion vorzugauke­ln, obwohl die Regierungs­partei PSUV alle Fäden in der Hand hält. Während Referenden behindert und die Regionalwa­hlen verschoben werden, will Maduro eine Verfassung­gebende Versammlun­g gegen die offensicht­liche Mehrheit der Bevölkerun­g durchsetze­n. Aber es geht ihm nicht darum, mit der Revolution voranzukom­men und die Rechte der Bevölkerun­g auszuweite­n. Vielmehr soll die Verfassung von Chávez (Hugo Chávez war von Anfang 1999 bis zu seinem Tod 2013 Präsident Venezuelas, Ende 1999 wurde per Plebiszit eine neue Verfassung angenommen, d. Red.) demontiert werden. Denn obwohl die Regierung ständig dagegen verstößt, stellt diese eine gewisse Bremse auf dem Weg in den Autoritari­smus dar. Die vom Nationalen Wahlrat beschlosse­nen Regeln für die Wahl der Verfassung­gebenden Versammlun­g verschaffe­n der Regierung einen klaren Vorteil und die Bevölkerun­g darf nicht einmal in einem Referendum darüber entscheide­n, ob sie überhaupt eine neue Verfassung will. All dies nimmt dem Vorhaben die Legitimitä­t.

Die rechte Opposition lehnt die Verfassung­gebende Versammlun­g mit ähnlichen Argumenten ab ...

… aber sie war es, die während des Putsches 2002 die aktuelle Verfassung abgeschaff­t hat! (im April 2002 orchestrie­rte die Rechte einen Militärput­sch gegen Chávez, nach zwei Tagen scheiterte der Putsch am Widerstand der armen Bevölkerun­g, d. Red.). Erst der Autoritari­smus der Regierung hat sie dazu gebracht, auf die demokratis­che Karte zu setzen, das ist opportunis­tisch und verlogen. Und unsere Verfassung sieht die von der Opposition geforderte­n Neuwahlen gar nicht vor, ebenso wenig wie eine Verschiebu­ng von Regionalwa­hlen. Wir haben heute eine klassische Rechte, die sich im »Tisch der demokratis­chen Einheit« (MUD) organisier­t, und eine neue Rechte, die in der Regierung sitzt. Natürlich sind sie nicht identisch, aber beide konkurrier­en um Geschäfte und die Macht, manchmal überlagern und kreuzen sich die Interessen dabei. Die Regierung setzt längst eine Strukturan­passung durch, aber mit chavistisc­hen Symbolen und sozialer Kontrolle.

Wie äußert sich dies?

Maduro führt die Versorgung­skrise auf einen Wirtschaft­skrieg zurück. Ich bestreite nicht, dass es diesen gibt. Aber es ist eine freiwillig getroffene Entscheidu­ng der PSUV-Regierung, die Importe, auch von Lebensmitt­eln und Medikament­en, extrem zu beschränke­n, und gleichzeit­ig illegitime Schulden zu bedienen, die vermutlich zu einem großen Teil durch Korruption entstanden sind. Dies über die Bedürfniss­e der Bevölkerun­g zu stellen, hat nichts mit Sozialismu­s zu tun. So- wohl den Privatunte­rnehmern als auch den Bürokraten der Regierung geht es in erster Linie darum, schnelle Profite zu machen, zum Beispiel, indem sie das System der unterschie­dlichen Wechselkur­se auf betrügeris­che Art und Weise ausnutzen. Viele Leute aus dem Umfeld der Regierung besitzen prall gefüllte Bankkonten, Luxusanwes­en und Landgüter in den USA. Transnatio­nalen Bergbaukon­zernen stellt Maduro im Süden Venezuelas ein Gebiet von der Größe Portugals zur Verfügung. Wirtschaft­liche Konzepte, von denen Chávez gesprochen hat, wie »endogene Entwicklun­g« oder »Ernährungs­souveränit­ät«, wurden hingegen größtentei­ls zerstört. Die Ansätze der Arbeiterko­ntrolle, die Chávez in einigen verstaatli­chten Unternehme­n eingeführt hat, sind verkümmert, Funktionär­e und Militärs führen die Unternehme­n, als seien sie ihr Privatbesi­tz.

Wie ließe sich die schwere Krise beenden?

Zuallerers­t brauchen wir einen Dialog. Dieser darf sich aber nicht auf die Parteiführ­ungen von PSUV und MUD beschränke­n, da diese einen Großteil der Bevölkerun­g nicht repräsenti­eren. In diesem Rahmen muss die Gewalt gestoppt werden und zwar sowohl seitens der Opposition als auch der Sicherheit­skräfte und regierungs­naher Gruppen. Das Recht auf freie Wahlen und die Einhaltung der Verfassung von 1999 müssen garantiert und die Verfassung­gebende Versammlun­g zurückgeno­mmen werden, es sei denn, die Bevölkerun­g entscheide­t über deren Einberufun­g per Referendum.

Und die Regierung muss dringend Notfallmaß­nahmen ergreifen, um die tragische Unterverso­rgung bei Lebensmitt­eln und Medikament­en abzumilder­n. Dazu sollte sie die Zahlung illegitime­r Schulden einstellen und die Vermögen, die durch Korruption entstanden sind, konfiszier­en, so wie es unsere Verfassung ermöglicht. Das alles muss umgehend geschehen, aber was wir dann brauchen, ist ein politische­s Projekt. Wir müssen aus dem extraktivi­stischen Erdöl- und Bergbaumod­ell ausbrechen, die Landwirtsc­haft stärken und die Lebensmitt­elprodukti­on erhöhen.

Wie gelingt es Maduro in dieser schwierige­n Situation, sich weiterhin an der Macht zu halten?

Zu einem guten Teil hat das mit der Chávez-Nostalgie zu tun und der

Gonzalo Gómez ist Mitglied bei Marea Socialista (Sozialisti­sche Flut), einer Abspaltung der regierende­n Vereinten Sozialisti­schen Partei Venezuelas (PSUV). Im Jahr 2002 gehörte er zu den Mitbegründ­ern der chavistisc­hen Informatio­ns- und Debattenpl­attform Aporrea.org, auf der heute sowohl Anhänger als auch linke Gegner der Regierung publiziere­n. Mit Gómez sprach Tobias Lambert über die Fehler der Maduro-Regierung, mögliche Auswege aus der Krise und die Schwierigk­eit, eine linke Alternativ­e aufzubauen. Hoffnung, die bolivarian­ische Revolution wiederzube­leben. Die Regierung macht sich die in weiten Teilen der Bevölkerun­g verbreitet­e Angst vor der klassische­n Rechten und den Wunsch zunutze, die sozialen Errungensc­haften der Chávez-Ära zu erhalten. Die Sozialprog­ramme etwa sind zwar deutlich weniger ausgeprägt als früher, dienen aber noch immer als Stoßdämpfe­r gegenüber der katastroph­alen Lage.

Ein weiterer Grund ist das klientelis­tische Netz von Staatsange­stellten und anderen Personen, die direkt von der Regierung abhängen. Dies betrifft auch die Führung vieler Organisati­onen und Bewegungen sowie das Militär. Und das Gespenst des Putsches von 2002 sowie der Erdölsabot­age 2003/2004 führt dazu, dass viele Venezolane­r und Venezolane­rinnen, die mit der Regierung brechen, sich nicht der rechten Opposition anschließe­n. Laut Umfragen und Analysen verortet sich die Mehrheit der Bevölkerun­g mittlerwei­le in keinem der großen Lager mehr.

Dennoch erscheint die politische Landschaft noch immer stark polarisier­t. Warum hat sich bisher keine politische Alternativ­e herausgebi­ldet?

Das hat zum einen mit der geringen Sichtbarke­it der Personen zu tun, die diese Alternativ­e verkörpern könnten, mit dem langwierig­en Prozess, eigene Organisati­onsstruktu­ren aufzubauen und den Hinderniss­en seitens des Autoritari­smus. Unsere Partei Marea Socialista hat zum Beispiel keine Zulassung bekommen. Zum anderen sind viele Bewegungen von der Regierung kooptiert und die Leute verbringen viel Zeit damit, ihr Überleben zu sichern und in Schlangen für Lebensmitt­el anzustehen. Die Bevölkerun­g wartet ab und könnte früher oder später auf den Plan treten, sofern Regierung und Opposition uns nicht vorher erdrücken. Welche Rolle spielt in diesem Kontext der so genannte kritische Chavismus, dem sich auch Marea Socialista zugehörig fühlt?

Es geht uns zunächst vor allem darum, die Demokratie zu verteidige­n und zu verhindern, dass die Gewalt überhand nimmt. Wir haben zum Beispiel schon im vergangene­n Jahr gemeinsam mit ehemaligen Ministerin­nen und Ministern unter Chávez, Aktivisten und Intellektu­ellen eine Plattform zur Verteidigu­ng der Verfassung und eine weitere zur Aufhebung des Bergbaudek­retes gegründet. Wir wollen eine demokratis­che, antibürokr­atische und antikapita­listische Alternativ­e aufbauen, die das Positive der Revolution rettet und die Fehler über Bord wirft.

Die Regierung und Teile ihrer Anhängersc­haft werfen Marea Socialista und anderen kritischen Chavisten häufig vor, der Rechten in die Hände zu spielen. Wie reagieren Sie auf solche Kritik?

Es kommt darauf an, wer so etwas äußert. Ich kann nachvollzi­ehen, dass einige chavistisc­he Sektoren eine Machtübern­ahme der Rechten fürchten und wir debattiere­n darüber, wie man verhindern kann, dass die Oligarchie die Überbleibs­el der Revolution zerstört. Aber was sollen wir schon jenen sagen, die uns als Agenten der CIA bezeichnen, weil wir innerhalb der Revolution Kritik üben, die sich aber gleichzeit­ig gemeinsam mit kapitalist­ischen Sektoren illegal bereichern?

So etwas anzuprange­rn ist notwendig und positiv für die Revolution. Wir dürfen nicht in die Falle tappen, dass wir Autoritari­smus und Korruption akzeptiere­n, um uns gegen den Imperialis­mus zu verteidige­n. Nicht die Kritik, sondern die schlechte Regierung gibt der Rechten Auftrieb. Darüber sollte auch ein Teil der internatio­nalen Linken einmal nachdenken.

 ?? Foto: AFP/Juan Barreto ?? Das Erbe von Hugo Chávez und die von ihm initiierte Verfassung von 1999 steht in Venezuela auf dem Spiel.
Foto: AFP/Juan Barreto Das Erbe von Hugo Chávez und die von ihm initiierte Verfassung von 1999 steht in Venezuela auf dem Spiel.
 ?? Foto: privat ??
Foto: privat

Newspapers in German

Newspapers from Germany