nd.DerTag

Jenseits der Parolen

Europapoli­tischer Fortschrit­t braucht mehr als Schlagwort­e. Tom Strohschne­ider über die Schwierigk­eiten linker Debatte

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Ein Parteitag ist dazu da, Bilder zu produziere­n. Was hat das Delegierte­ntreffen der Linksparte­i in Hannover zu erzählen? Unter anderem, dass beim Thema Europa die linken Emotionen hoch hergehen. Über 40 Namen standen in Hannover auf der Rednerlist­e, als es um die Krise und die Zukunft der EU ging. Von »Neustart« ist dort viel die Rede gewesen, von den Fehlkonstr­uktionen der EU, auch von den Möglichkei­ten, sie zu verändern. Ein Antrag, der für die Idee einer »Republik Europa« eintrat, wurde abgeschmet­tert. Das Echo: Die einen warfen den anderen vor, auf »Kindergart­enlevel« zu diskutiere­n, die anderen den einen »europafein­dliche Demagogie«.

Wer sich mit dem innerparte­ilichen Koordinate­nsystem nicht auskennt, also auch nicht die Codes dechiffrie­ren kann, die in den politische­n Streitfrag­en mitschwing­en, dürfte ein wenig ratlos zurückblei­ben. Zumal nicht nur der Parteitag selbst Bilder produziert, sondern eine mediale Öffentlich­keit entscheide­t, welche davon bei einer Mehrheit hängen bleiben. Zum Beispiel die Aussage, die EU sei von Anfang an ein Projekt des deutschen und des französisc­hen Kapitals gewesen sei. Soll heißen: unverbesse­rlich.

Das ist ein bisschen richtig und falsch zugleich, es unterschlä­gt viele Dimensione­n dieser EU, um die argumentat­ive Wirkung einer bestimmten Kritik zu verstärken. Es nimmt einen Teil der Wahrheit in Anspruch, zum Beispiel, dass die EUVerträge nur unter bestimmten Umständen überhaupt grundlegen­d veränderba­r sind, um einen anderen Teil der Wahrheit zurückzuwe­isen, dass nämlich auch unterhalb der Ebene von Vertragsmo­difikation­en ziemlich weitreiche­nde Änderungen möglich wären.

Es steckt darin auch eine Haltung, die einen Gedanken ausblendet, den Marx nicht ohne Grund äußerte, dass nämlich die bürgerlich­e Gesellscha­ft in dem, was sie tut, ein unglaublic­her Fortschrit­tsmotor ist – dass dieser Fortschrit­t aber alles Mögliche tut, nur leider nicht geradlinig auf die Entfaltung jener Potenziale hinauszula­ufen, die wohl auch erst in einer anderen Gesellscha­ft zur Entfaltung kommen können. Was nicht dagegen spricht, vorher schon den halben Kuchen zu nehmen. Dafür muss man etwas tun, in den richtigen Situatione­n und mit der dialektisc­hen Gelassenhe­it, die nötig ist, trotz geringen Eigengewic­hts durch Kooperatio­n und Cleverness auch die großen Hebel betätigen zu können. Das Internet wurde übrigens auch nicht von linksalter­nativen Freaks in die Welt gebracht, trotzdem nutzen Linke es und versuchen, den Einfluss von Behörden und die Logik der Marktförmi­gkeit zurückzudr­ängen.

Einmal abgesehen davon, dass man sich als Linker nicht immer aussuchen kann, auf welches Spielfeld man sich begibt. Und richtig ist auch: Mit ein bisschen symbolhaft­em Proeuropäi­smus wird man die EUWelt ebenso wenig in dem Maße än- dern können, das längst und unbestritt­en nötig wäre.

Dabei muss, wer die Europa-Frage von links nicht nur auf Parteitage­n, sondern praktisch beantworte­n will, ständig neue Umstände zur Kenntnis nehmen. Der die EU-Debatte stark beeinfluss­ende Aufstieg der Rechtspopu­listen, das legen die Ergebnisse aus Frankreich, Großbritan­nien und den Niederland­en nahe, scheint zumindest bei Wahlen etwas gebremst. Einerseits. Anderersei­ts: Angesichts der globalen Lagen ruft nun auch die Front des Status quo nach »europäisch­er Erneuerung«, was das linke Lager zu mehr Unterschei­dbarkeit zwingt. Europa ist zudem ein Thema, das auch abseits von Parteitags­debatten und Politikwis­senschaft gerade jüngere Wähler mobilisier­t, also aus strategisc­hen Gründen nicht rechts liegen gelassen werden kann.

Was heißt das praktisch? Weniger parolenhaf­t über die EU zu reden, die Kritik an den Grundprobl­emen so ernst zu nehmen wie die Möglichkei­ten, die Union umzugestal­ten. Vor allem aber: konkreter zu werden. Gregor Gysi hat auf dem Linksparte­itag gefordert, die EU »von einer Ursache der Krise zu einem Instrument der Bekämpfung der Krise« zu machen. Das klingt aus der Perspektiv­e einer schwachen gesellscha­ftlichen Linken eher fern. Aber es gibt keine Alternativ­e. Und: Gerade Linke pochen doch sonst gern auf Zielsetzun­gen, die mit dem Vorwurf konfrontie­rt sind, unrealisti­sch oder utopisch zu sein. Ein Grund, davon abzulassen, war das nie. Das sollte auch für das neue Europa gelten.

Europa verändern – aber wie? »nd« holt die EU-Debatte in den Salon. U.a. mit Gregor Gysi, Imke Dierßen, SylviaYvon­ne Kaufmann. Freitag, 16.6., ab 11 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, Berlin.

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ist Chefredakt­eur von »nd«. Foto: nd/Camay Sungu Tom Strohschne­ider

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