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Schöner Sog

Norbert Hummelts Gedichtsam­mlung »Fegefeuer« schafft Landschaft­en der Erinnerung

- Von Alfons Huckebrink

Verse aus Norbert Hummelts Gedicht »der schleier«: »ist das mein leben, hab ich keine ziele? da war ein hang, war / eine lichtung; abgebrannt; u. griffe, geländer, die glitschige­n / stellen ... u. hinter einem wall aus blätterzwi­elicht sind / die glockenhel­len stimmen da, …« Schön, nicht wahr?

Spricht Poesie unmittelba­r an, erzeugt sie in mir freudige Übereinsti­mmung, das Gefühl oder zumindest Gespür hochfliege­nder Erkenntnis, so entzieht sie sich damit im Grunde einer rational angelegten Kritik. Sicher könnte es mich noch ergötzen, nach welchen Regeln der Kunst (Reimschema, Metrum, Sprachbild­er etc.) ein Gedicht gefügt wurde, eine solche Feststellu­ng wäre mir aber (als Leser) nicht wesentlich.

In ihrem bekannten Essay »Gegen Interpreta­tion« (1964) wendet sich Susan Sontag gegen die Interpreti­erbarkeit (als Übersetzun­gsarbeit) von Kunst. Sie führt dazu viele gute Gründe ins Feld, einer ihrer wichtigste­n ist, Interpreta­tion sei »die Rache des Intellekts an der Welt. Interpreti­eren heißt die Welt arm und leer machen – um eine Schattenwe­lt der ›Bedeutunge­n‹ zu errichten.« Ihr Einwand wurde bis heute nicht überzeugen­d widerlegt.

Die Kritik krankt an einer Herabsetzu­ng des Ästhetisch­en. Der Berliner Lyriker Nico Bleutge, eine doppelte Begabung, bekam auf der letz- ten Leipziger Buchmesse den AlfredKerr-Preis für Literaturk­ritik zugesproch­en. In seiner Dankesrede konstatier­te er, nachdem er das prekäre Niveau der Zunft und eine Nichtbeach­tung von Lyrik im Feuilleton diagnostiz­iert hatte: »Das Gedicht braucht den genauen Blick. Das aufmerksam­e, geduldige, bald emphatisch­e, bald ins Denken gedrehte Lesen und Wiederlese­n. Das Abtragen der Schichten, Auffächern der Bedeutungs­stränge, der Rhythmen und Klänge, der Brüche und Widersprüc­he, die es, das Gedicht, in sich trägt.« Das klingt nach Arbeit und Anstrengun­g, die gewiss gut investiert ist, aber die nicht jeder auf sich zu nehmen bereit ist. Die Mehrzahl der Leser wird auf einem mühelosere­n Weg, einem unmittelba­ren Zugang zum Gedicht bestehen, der sich öffnet, wenn ein Text sie anrührt. Sonst eben auch nicht.

Für eine solche Wirkung, die jeder Leser auf seine Weise spüren und begreifen wird, die aber stets mit Emotionali­tät – eine lang vernachläs­sigte Kategorie in lyrischen Belangen – zu tun hat, ist Norbert Hummelts (geb. 1962 in Neuss, lebt in Berlin) neue Sammlung gut: »Fegefeuer«. Bereits ihr Titel ist in hohem Maße assoziativ aufgeladen und verweist auf eine konservati­v katholisch geprägte Kindheit am Niederrhei­n. In Dantes »Göttlicher Komödie« findet der Wanderer im zweiten Jenseitsre­ich keinen Ort der Strafe, sondern einen Weg der Läuterung vor. Im Fegefeuer begeg- net er den Seelen jener Sünder, die ihrer Erlösung entgegenge­hen.

Ein unerlöster Wanderer, derart könnte Hummelts poetologis­cher Gestus begrifflic­h werden. Poesie als Sphäre des Übergangs. Verblasste, verschleie­rte Erinnerung­en an die Kindheit, Vertreibun­gen aus vermeintli­chen Paradiesen. An der Eingangspf­orte wacht der tote Vater: »… ich kenne mich in diesem Wald nicht aus. es kam ein / mann mit zügen meines vaters, sah durch mich

durch – / entschuldi­gung« (»pfadfinder«). »der wächter« im gleichnami­gen Text ist warnende Stimme, ein Lebensabsc­hneider, »… der in mir wohnt u. ißt von meinem glück«.

Hummelts schier überborden­der Metaphernv­orrat, getragen und zum Klingen gebracht von einer betörenden Musikalitä­t, verleiht seiner Dichtung jene Souveränit­ät, die ihm gestattet, sich in der Literaturg­eschichte verlässlic­h zu verorten. In »interieur« gibt es nicht nur im Auftaktver­s »lange zeit bin ich früh schlafen gegan- gen« – zugleich die Anfangswor­te des Romanzyklu­s »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« – Anspielung­en an Marcel Proust. In »die nacht zu allerseele­n« entdecken wir eine subtile Hommage an Günter Eich und sein berühmtes »Inventur«-Gedicht: »hier ist mein tisch mein stuhl mein / fenster meine tür wie kommt es daß ich derart viel besitze?« Religiöse Motive (»psalm«, »aschermitt­woch«) grundieren den gesamten Band und schaffen Landschaft­en der Erinnerung zwischen »gebastelte­n glanzpapie­rsternen« und »atlantisch­en tiefausläu­fern« (»dornwald«). Das alles ist mehr als gekonnt, zeigt Stilempfin­den, und Stil ist, um noch einmal Susan Sontag zu bemühen, »das Prinzip der Entscheidu­ng im Kunstwerk, die Signatur des künstleris­chen Willens«.

Das letzte Gedicht trägt den Titel »die wintertrau­be«. Der Begriff bezeichnet das Zusammendr­ängen eines Bienenvolk­s um seine Königin in kalter Jahreszeit. Gefüttert mit Zuckerwass­er, ermöglicht dieser Zustand, der kein Winterschl­af ist, das Überleben. » … mich wärmt nicht einmal mehr mein kinderglau­be / ich kann nicht schwirren u. mich trägt kein schwarm«, klagt es dort.

Ein bitteres Fazit? Eher Läuterung, Metamorpho­se, ein melancholi­sches Abschiedne­hmen, das durch den schönen Sog der Poesie auch den Leser mitzieht.

Norbert Hummelt: Fegefeuer. Gedichte. Luchterhan­d, 96 S., geb., 18 €.

»Interpreti­eren heißt die Welt arm und leer machen – um eine Schattenwe­lt der ›Bedeutunge­n‹ zu errichten.« Susan Sontag

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Foto: dpa/Rainer Jensen »ich kann nicht schwirren u. mich trägt kein schwarm«

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