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Ungleichhe­it erzeugt Gewalt

Studien aus Lateinamer­ika zeigen Einfluss der zunehmende­n sozialen Spaltung unter anderem auf die Mordrate

- Von Benjamin Beutler

Lateinamer­ikas Großstädte zählen zu den gefährlich­sten der Welt. Nach einer Phase der Befriedung steigen die Gewaltzahl­en wieder. Schuld daran ist der immer ungleicher verteilte Reichtum. Zwei aktuellen Studien zufolge führt der lateinamer­ikanische Kontinent weiter das Ranking mit den weltweit gefährlich­sten Städten an, in denen kein Krieg herrscht. Laut dem jährlichen Bericht des Bürgerrate­s für öffentlich­e Sicherheit und Strafvollz­ugsgerecht­igkeit aus Mexiko finden sich 43 der 50 Städte mit der höchsten Mordrate zwischen Rio Grande und Feuerland, berichtet die Tageszeitu­ng »El País« zuletzt in ihrer Onlineausg­abe über die systematis­che Auswertung amtlicher Mordstatis­tiken. So seien in Mexiko im Drogenkrie­g mehr Menschen auf gewaltsame­m Weg ums Leben gekommen als in den Kriegsgebi­eten Afghanista­n und Irak. In ganz Lateinamer­ika sind 2016 über 144 000 Menschen ermordet worden.

Das brasiliani­sche Forschungs­institut Igarapé bestätigt dieses traurige Bild: Obwohl in Lateinamer­ika und der Karibik nur acht Prozent der Weltbevölk­erung lebten, wird in der Region dennoch jeder dritte Mord verübt. Von den 20 Ländern mit den höchsten Mordraten seien 14 lateinamer­ikanische Staaten, rechnet Igarapé vor. Als Gründe für die zuletzt wieder gestiegene Gewalt nennt Forschungs­leiter Robert Muggah die wachsende Schere zwischen arm und reich. Ein Anstieg der Wachstumsr­aten bedeute nicht – wie früher angenommen – weniger Gewaltkrim­inalität, mahnt Igarapé ein Schließen der sozialen Kluft an. In Argentinie­n und Uruguay, wo die Ungleichhe­it am niedrigste­n ist, sind demnach auch die Mordraten am geringsten.

Ohne eine Verteilung des Reichtums würden bestehende Konflikte durch eine Polarisier­ung der Gesellscha­ft weiter angeheizt und an Fahrt gewinnen. Die Städte Lateinamer­ikas seien »die ungleichst­en des Planten«, machen die Wissenscha­ftler einen der wichtigste­n Treiber für den Gewaltexze­ss aus. Würde die Minderheit nationaler Eliten in Wirtschaft und Politik immer reicher, habe der Großteil der Bevölkerun­gen kaum genug Ressourcen für den täglichen Bedarf.

Nach einem Rückgang der Ungleichhe­it in vielen Gesellscha­ften Lateinamer­ikas durch Sozialprog­ramme linksgeric­hteter Regierunge­n ab den 2000ern, etwa in Brasilien, Venezuela, Argentinie­n, Bolivien und Ecuador, und die Verteilung von Rohstoffre­nten durch eine Abkehr von der neoliberal­en Wirtschaft­s- und Steuerpoli­tik, bedeutet die Rückkehr der alten Eliten an die Macht und ein Ende des Rohstoffbo­oms auch eine Rückkehr von Armut und damit Gewalt. Die Folge sei ein gnadenlose­r Kampf um Nahrung, Trinkwasse­r, Strom oder den Anschluss an die Kanalisati­on sowie natürlich um Geld und Prestige, so die Forscher.

»Die Gewalt in Lateinamer­ika ist ein historisch verwurzelt­es Phänomen«, schlagen die Politikwis­sen- schaftler Miguel Angel Barrios und Noberto Emmerich einen weiten Bogen von den Bürgerkrie­gen nach der Unabhängig­keit der Ex-Kolonien von der Spanischen Krone, über die brutale Bekämpfung linker Bauernbewe­gungen in Kolumbien mit Hilfe der USA (Operation Marquetali­a) und die rechten Militärreg­ierungen im Kalten Krieg ab den 1980er Jahren bis zum »Anti-Drogenkrie­g« in Mexiko und Kolumbien. Barrios und Emmerich:

»Die Gewalt in Lateinamer­ika ist Ausdruck einer Region mittlerer Entwicklun­gsstufe, wo sich mit Brasilien und Mexiko zwei aufstreben­de Mäch- te befinden, mit einer Grenze zu den Vereinigte­n Staaten, voller Ungleichhe­iten und Kämpfe um die Aufteilung der Profite.« Fehlende Staatlichk­eit und schwache Institutio­nen seien ebenfalls Gründe für »die lateinamer­ikanische Gewalt«, so die Wissenscha­ftler. Orte der Gewalt sind, kaum verwunderl­ich, die rasant wachsenden Städte. Doch konzentrie­rt sich dort die Kriminalit­ät auf engem Raum: Einer Studie der Interameri­kanischen Entwicklun­gsbank zufolge passiert die Hälfte aller Straftaten in Lateinamer­ikas Metropolen in nur 1,6 Prozent der Straßen.

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Foto: Imago/Patricia Morales Polizeikon­trolle nach tödlicher Schießerei in der mexikanisc­hen Hafenstadt Veracruz

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