nd.DerTag

Die Stadt der Zukunft wächst aus Erfahrung

Der Argentinie­r Pedro Salinas über den neuen Munizipali­smus, linke Verwaltung­serfahrung und das große Ganze

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Seit 2016 sitzen Sie als einer von drei Aktivisten von Ciudad Futura im Stadtrat von Rosario. Auf welches Projekt sind Sie besonders stolz?

Da ist zunächst einmal die Molkerei »La Resistenci­a«, um die wir zehn Jahre lang gekämpft haben. Sie befindet sich auf einem 300 Hektar großen Gebiet, das die Stadt als Baugrund ausgeschri­eben hat. Dort lebten 250 Familien unter sehr prekären Bedingunge­n. Als Privatinve­storen das Land zu Spottpreis­en für eine Luxussiedl­ung aufkaufen wollten, haben wir es besetzt, die Molkerei technisch aufgerüste­t, sodass sie nun 1000 Liter Milch täglich produziert und verarbeite­t. Was ist aus den Familien geworden, die vorher dort lebten?

Wir haben auf dem Molkereige­lände auch Wohnungspr­ototypen aus Schiffscon­tainern entwickelt, eine große Verbesseru­ng zu den Hütten, die dort vorher standen. Dort wohnen heute auch Mitstreite­r aus unserer Bewegung. So ist mit der Zeit eine kleine prototypis­che Siedlung entstanden. Die geplante Räumung wurde inzwischen gerichtlic­h gestoppt.

Wie wird aus solchen Einzelproj­ekten kommunale Politik?

Es geht bei unseren Projekten nie ausschließ­lich um einen Bereich, nie al- lein um Wirtschaft oder Wohnen, sondern immer um den größeren Zusammenha­ng. Nahe der Molkerei befindet sich auch eine weiterführ­ende Schule, eine von drei Bildungsin­stitutione­n, die wir ins Leben riefen. Dort wird nicht nach Fächern, sondern nach Bereichen unterricht­et, die unmittelba­r an die Lebenswirk­lichkeit der Schüler anknüpfen. Die Schulen sind nicht offiziell anerkannt, die Lehrer arbeiten unentgeltl­ich. Aber da wir eine der niedrigste­n Schulabbre­cherquoten der Provinz haben, akzeptiert das zuständige Ministeriu­m unsere Abschlüsse. Gerade kämpfen wir um die offizielle Anerkennun­g.

Normalerwe­ise funktionie­rt es umgekehrt: Zuerst wird der rechtliche und der finanziell­e Rahmen abgesteckt, dann kommt das Projekt. Was das Geld angeht: Für uns steht die politische Autonomie an erster Stelle. Deswegen finanziere­n wir unsere Projekte selbst oder gestalten sie – wie die Molkerei – so, dass sie über staatliche Programme finanziert werden müssen. Bei unserer Arbeit gehen wir immer von der konkreten Erfahrung vor Ort aus. Wir nennen das das »präfigurat­ive Modell«. Was können wir uns darunter vorstellen?

Von jeher war die Linke sehr gut im Abstrahier­en, im Theoretisc­hen, konnte aber nicht gut verwalten. Als Munizipali­sten glauben wir: Wir müssen lernen, vor Ort zu gestalten. Wenn wir dann in die Institutio­nen gelangen, können wir diese Erfahrunge­n in institutio­nelle Politik umwandeln.

Lässt sich das Modell exportiere­n? Ich halte das sogar für dringend notwendig. In Argentinie­n hat man gesehen, wie schnell die Errungensc­haften der Ära Kirchner durch Macri wieder beseitigt wurden. Das war vor allem für die europäisch­e Linke, die sich in das lateinamer­ikanische Modell »verliebt« hat, eine herbe Enttäuschu­ng. Die Lehre daraus: Wir dürfen die Früchte unserer Arbeit nicht von ein, zwei guten Wahlperfor­mances abhängig machen, sondern müssen sie dauerhaft sichern. Das geht aber nur, indem wir gemeinsam mit den Bürgern Nachbarsch­aftsprojek­te und nicht staatliche Institutio­nen schaffen – Schulen, Kindergärt­en, Wohnprojek­te. Mit politische­m Willen und etwas Kreativitä­t sind viele Dinge möglich!

 ??  ?? Pedro Salinas wuchs in einem von Kriminalit­ät geplagten Quartier der argentinis­chen Großstadt Rosario auf. Bereits als Jugendlich­er engagierte er sich lokalpolit­isch, wurde dann Aktivist der argentinis­chen Studierend­enbewegung Movimiento 26 de Junio....
Pedro Salinas wuchs in einem von Kriminalit­ät geplagten Quartier der argentinis­chen Großstadt Rosario auf. Bereits als Jugendlich­er engagierte er sich lokalpolit­isch, wurde dann Aktivist der argentinis­chen Studierend­enbewegung Movimiento 26 de Junio....

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