Kritik am Kraftkonzept
Wie Bundestrainer Henning Lambertz die deutschen Schwimmer besser machen will
Am Donnerstag beginnen die Deutschen Meisterschaften der Schwimmer in Berlin. Entfacht ist eine Debatte, wie Beckenspezialisten wieder erfolgreicher werden können. Als Henning Lambertz vor einigen Tagen die aktuellen Zahlen über die Leistungen der deutschen Pool-Jugend in die Hände bekam, wurden dem 46-Jährigen die Beine schwach. Kummer ist der Chefbundestrainer, seit Januar 2013 im Amt, ja gewöhnt. Doch mit dieser Nullnummer hatte er nicht gerechnet. »Kein einziger hat die Norm für die Jugend-Europameisterschaften erfüllt, null. Wir haben starke Probleme in Deutschland: Schon unten entsteht, was wir oben spüren«, berichtet Lambertz im Gespräch mit »nd« desillusioniert und fügt hinzu: »Das gilt trotz oder aufgrund vieler bisheriger Freiheiten im Nachwuchsbereich.«
Der Hinweis ist ihm wichtig, denn der Häuptling der deutschen Schwimmer musste zuletzt heftige Seitenhiebe ehemaliger Mitstreiter einstecken. Für Unmut sorgt vor allem das Kraftkonzept, das Lambertz seit dem jüngsten olympischen Desaster in Rio konsequent vorantreibt. Zudem bringt die gemeinsam mit dem DSV angeschobene Zentralisierung einige in der Branche, die sich ab Donnerstag bei den deutschen Meisterschaften in Berlin trifft, gewaltig auf die Palme.
So monierte Trainerkollege Frank Embacher, dem an Heiligabend das DSV-Schreiben mit seiner Kündigung ins Haus flatterte, Lambertz suche vor allem willige Gesinnungsgehilfen. Und der nach Rio zurückgetretene Paul Biedermann, am Stützpunkt Halle/Saale unter Embacher zum Doppelweltmeister 2009 avanciert, warf dem Bundestrainer vor, mit der Abkehr von individuellen Lösungen die vielen kleinen Schwimmvereine im Land auf Dauer trockenzulegen.
So verliert die 24-jährige WMHalbfinalistin Vanessa Grimberg zum 1. Juli ihre Anstellung als Sportsoldatin bei der Bundeswehr, weil sie nicht von Stuttgart an den Bundesstützpunkt Heidelberg wechseln will. »Gerade bei älteren Athleten, die leistungsmäßig noch ein bisschen hinten anstehen, hätte man Kompromisse finden können – oder findet sie auch noch«, äußert Marco Koch gegenüber »nd«. Zugleich betont der Weltmeister über 200 Meter Brust von 2015 aber: »Das verstärkte Krafttraining kann für viele ein Schritt in die richtige Richtung sein. Warum also nicht diesen Weg gehen und es mal probieren? Ich jedenfalls stehe schon hinter diesem Kraftkonzept.« Zumal die deutschen Beckenspezialisten vor zehn Monaten zum zweiten Mal in Folge bei Olympia medaillenlos an Land gingen. Deshalb ist jetzt Schluss mit lustig, ab 2019 müssen die Schwimmer mit 25 Prozent weniger Geld auskommen. Lambertz kontert seine Kritiker: »Wir verändern Inhalte im Training – weil wir bisher Dinge gemacht haben, die uns nicht weitergebracht haben. Außerdem können wir nicht immer nur an Ideen anderer rummeckern. Wo sind die Gegenvorschläge?«
Seit der Veröffentlichung des Kraftkonzepts im September 2016 habe er seine Kollegen immer wieder aufgefordert, ihm wissenschaftliche Nachweise zu schicken, die womöglich gegen den frisch eingeschlagenen Weg sprechen. In dem Fall werde er sofort Veränderungen vornehmen. »Aber seit ich das Konzept vorgestellt habe, habe ich nicht eine einzige E-Mail dazu bekommen.«
Deshalb agiert der DSV nun in erster Linie mit den vier Kernstützpunkten in Hamburg, Essen, Heidelberg und Berlin – inzwischen allesamt besetzt mit hauptverantwortlichen Trainern, die der neuen Linie folgen. »Dafür bin ich sehr dankbar«, kommentiert Lambertz, der bei seinem Anforderungsprofil für die vier Wettkampftage in Berlin zweigleisig fährt.
Wer von den Etablierten im Juli mit zur WM nach Budapest will, muss im Finale die Zeit des Endlaufachten bei den Spielen von Rio vorlegen. Angesichts dieser Hürde rechnet Lambertz mit nur sechs Qualifikanten in der offenen Klasse – plus zehn bis zwölf Nachwuchsschwimmern, denen der Einstieg ins Nationalteam mit weicheren Normen erleichtert werden soll. Wobei der Bundestrainer von seinem ursprünglichen Plan, die Poolspezialisten bis Olympia 2020 zurück in die Weltspitze zu führen, bereits abrückt: »Die Frage, ob wir unsere sportlichen Ziele auf 2024 verschieben müssen, muss ich fast bejahen«, gesteht Lambertz. Denn: »Mit welchen Namen sollen wir die Medaillen in drei Jahren gewinnen? Fakt ist, dass wir nach heutigem Stand keinen einzigen Schwimmer als klaren Medaillenkandidaten für Tokio bezeichnen dürfen. Selbst Marco Koch nicht.«