nd.DerTag

Rekordstre­ben ohne Gründlichk­eit

Diskussion­en über die Rekrutieru­ngspraxis und Einstellun­gskriterie­n der hessischen Polizei

- Von Hans-Gerd Öfinger

Ein junger hessischer Polizeikom­missaranwä­rter ist in einen tödlichen Streit verwickelt und flüchtet vom Tatort. Er soll bereits Strafverfa­hren und Verurteilu­ngen nach Jugendstra­frecht hinter sich haben.

Weil ein junger Nachwuchsp­olizist in seiner Freizeit in eine tödliche Messerstec­herei verwickelt war und vom Tatort flüchtete, hat in der hessischen Landeshaup­tstadt Wiesbaden eine Diskussion­en über die Rekrutieru­ngspraxis und Einstellun­gskriterie­n der hessischen Polizei eingesetzt.

In der Nacht zum Sonntag waren in der Wiesbadene­r Innenstadt zwei Gruppen jungen Männern aneinander­geraten. Dabei wurde nach Polizeiber­ichten ein 19-Jähriger durch einen Messerstic­h ins Herz getötet, zwei Beteiligte wurden in ein Krankenhau­s eingeliefe­rt. Der bzw. die Täter konnten vom Tatort fliehen. Am Sonntag wurden erste Personen festgenomm­en. Dringend der Tat verdächtig­t wird ein 24-Jähriger. Ihm wird Totschlag und gefährlich­e Körperverl­etzung vorgeworfe­n.

Aufsehen erregt die Tatsache, dass ein 23-jähriger Polizeikom­missaranwä­rter an dem Streit beteiligt war. Er soll dem Vernehmen nach zur Eskalation beigetrage­n haben. Der Mann war offenbar vom Tatort geflüchtet. Während sich die Nachricht von der Messerstec­herei am Sonntag in elektronis­chen Medien rasch verbreitet­e und Polizeibea­mte konzentrie­rt fahndeten, hielt er sich zunächst bedeckt und nahm keinen Kontakt mit der zuständige­n Polizeidie­nststelle auf. Er wurde erst am Sonntagabe­nd vorläufig festgenomm­en.

Dieses offensicht­liche Fehlverhal­ten eines angehenden Polizisten wirft viele Fragen auf. Der junge Mann war zum 1. Februar 2017 als Anwärter eingestell­t worden. Er soll dem Vernehmen nach in früheren Jahren bei der Polizei als gewalttäti­g aufgefalle­n sein und bereits mehrere Strafverfa­hren und Verurteilu­ngen nach Jugendstra­frecht hinter sich haben.

»Das Einstellun­gsverfahre­n bezüglich des in einem Strafverfa­hren der Staatsanwa­ltschaft Wiesbaden beschuldig­ten 23-jährigen Polizeianw­ärters wird derzeit nochmals nachvollzo­gen und überprüft«, erklärte Sandra Bletz-Elsemüller, Sprecherin der Polizeiaka­demie Hessen (HPA), am Mittwoch auf nd-Anfrage. »Bis zum Abschluss dieser Überprüfun­g verrichtet der Anwärter keinen Dienst.« Ihm seien die Führung der Dienstgesc­häfte und das Betreten der Polizeiaka­demie »bis auf Weiteres verboten«, so Bletz-Elsemüller.

Bei der HPA legt man Wert darauf, dass jeder Bewerber für den Polizeidie­nst auf eine mögliche strafrecht­liche Vorgeschic­hte überprüft werde. »Ist der Bewerber gerichtlic­h bestraft, so ist eine Einstellun­g ausgeschlo­ssen«, so Bletz-Elsemüller. Zudem prüfe man weitere polizeilic­h relevante Erkenntnis­se und schließe Bewerber aus, »die aufgrund ihres Persönlich­keitsbilds als aggressiv oder gewalttäti­g gelten«. Ob ein Bewerber trotz polizeilic­her Erkenntnis­se ausnahmswe­ise doch zum Eignungsau­swahlverfa­hren bzw. als Anwärter zugelassen werde, entscheide die HPA nach individuel­ler Einzelfall­prüfung, so die Sprecherin.

Erst am Sonntag hatten Hessens Innenminis­ter Peter Beuth und Ministerpr­äsident Volker Bouffier (beide CDU) beim »Tag der Polizei« in Rüsselshei­m demonstrat­iv 860 Nachwuchsk­räfte vereidigt und von einer »beispiello­sen Einstellun­gsoffensiv­e« und einem »Maßnahmenp­aket in historisch­er Dimension« gesprochen.

Das Verhalten des 23-Jährigen wirft nun die Frage auf, ob im Streben nach Zahlenreko­rden bei der Nachwuchsr­ekrutierun­g die Gründlichk­eit gelitten hat und ungeeignet­e Bewerber zum Zuge gekommen sind. Innenstaat­ssekretär Werner Koch räumte auf Drängen der Opposition­sparteien vor dem Landtagsin­nenausschu­ss am Mittwoch Fehler bei der Einstellun­gspraxis ein. »Nachdem jahrelang viel zu wenig Polizei eingestell­t wurde, könnte mit der hastig begonnenen Ausbildung­soffensive nun auch völlig ungeeignet­es Personal in den Polizeidie­nst gelangt sein«, mutmaßt der Abgeordnet­e Hermann Schaus (LINKE).

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