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Die Geburt des Terrorismu­s

Adam Zamoyski sieht die Wurzeln von Terror in der Angst vor Revolution­en, Aufständen und Verschwöru­ngen

- Von Walter Schmidt

Felice Orsini, der 1858 in Paris auf Kaiser Napoleon III. ein Attentat verübte, gilt als erster Terrorist. Doch was unterschei­det die diversen Terrorisme­n?

Die historisch­e Forschung hatte längst geklärt, dass die Große Französisc­he Revolution von 1789 und insonderhe­it deren Jakobinerd­iktatur unter den Herrschend­en in ganz Europa Angst und Schrecken vor erneuten Revolution­en verbreitet­e, aber auch das aufstreben­de Bürgertum zum Revolution­sgegner werden ließ. Doch blieb nachzuweis­en, mit welchen konkreten Maßnahmen die Machthaber auf diese Revolution­sfurcht reagierten und welche verhängnis­vollen Auswüchse einer sogenannte­n Sicherheit­spolitik damit verbunden waren. Einzelstud­ien dazu sind in den Geschichte­n der verschiede­nen Länder sicher schon nachzulese­n; ein geschlosse­nes Bild über ganz Europa stand indes noch aus.

Der polnischst­ämmige britische Historiker Adam Zamoyski hat dies nun – nach Büchern über Napoleons Russlandfe­ldzug von 1812 und über den Wiener Kongress 1815 – geliefert. Er erhellt, ohne sich auf theoretisc­he Probleme des Gegenstand­s einzulasse­n, sehr plastisch und an zahllosen Beispielen, zu welchen Phänomenen der Verfolgung und Unterdrück­ung die Angst vor Revolution­en, Aufständen und sogenannte­n Verschwöru­ngen in den europäisch­en Staaten zwischen dem Wiener Kongress von 1825 und der Revolution von 1848/49 führte. Und dies machte er als eine gesamteuro­päische Erscheinun­g sichtbar. Dafür hat Zamoyski, von mehreren Mitarbeite­rn unterstütz­t, die Quellen aus Archiven in England, Irland, Frankreich, Österreich und Deutschlan­d zusammenge­tragen sowie zahlreiche Memoiren und eine umfangreic­he Literatur ausgewerte­t.

Der Leser erfährt, oft bis ins Detail genau und meist durch zitierte Quellen belegt, wie die Regierunge­n gegen selten tatsächlic­he und oft sogar erfundene Verschwöru­ngen systematis­ch geheimdien­stliche Netzwerke aufbauten, ein grandioses Spitzelwes­en sowie Brief- und Personenüb­erwachunge­n organisier­ten und eine Zensur aller Druckmedie­n einrichtet­en. Und dabei keine Kosten scheuten. Hierin standen das verbürgerl­ichte Großbritan­nien, das vom englischen Autor verständli­cherweise besonders ausführlic­h behandelt ist, und das nicht minder vom Feudalismu­s befreite Frankreich den restaurier­ten, noch weitgehend absolutist­isch regierten Staaten des Kontinents keineswegs nach.

Ausführlic­h beschriebe­n werden die vielfältig­en Methoden der Überwachun­gssysteme. Der Autor weiß die gründlich recherchie­rten Vorgänge unterhalts­am zu erzählen, scheut nicht Anekdotisc­hes, charakteri­stische Episoden und Sensatione­lles, vergisst selbst Metternich­s amouröse Abenteuer mit der Frau des russischen Geheimdien­stchefs Alexander von Benckendor­ff nicht.

Der Autor stellt kurzbiogra­fisch wichtige Protagonis­ten der Spitzelapp­arate in den verschiede­nen Staaten vor, so Alexander v. Benckendor­ff und Alexei Araktschej­ew in Russland, Joseph Fouché, Charles-Maurice Talleyrand und Gabriel Delessert in Frankreich sowie Wilhelm Sayn-Wittgenste­in und Karl Albert v. Kamptz in Deutschlan­d. Im Zentrum steht jedoch als führender europäisch­er Repräsenta­nt Fürst Metternich aus Österreich, der – sekundiert vom russischen Zarismus mit der von Alexander I. erfundenen »Heiligen Allianz« – das Europa umspannend­e reaktionär­e Abwehrsyst­em gegen eine angebliche »universell­e Verschwöru­ng« mit einem leitenden Pariser comité directeur im Zentrum installier­te und damit über Jahrzehnte jedwede fortschrit­tliche gesellscha­ftliche Veränderun­g unterdrück­te.

Die 20er Jahre des 19. Jahrhunder­ts bildeten in der Geschichte des staatliche­n Terrors gegen den bürgerlich­en Fortschrit­t wohl den Gipfelpunk­t. Die französisc­he Julirevolu- tion von 1830 offenbarte zwar erstmals deutlich die Brüchigkei­t des Systems. Metternich erkannte wohl richtig, dass man »am Anfang vom Ende des alten Europa angelangt« sei. Widerstand begann sich auch in den Reihen der Regierende­n zu artikulier­en. Außer dem Österreich­er Franz v. Ko- lowrat äußerte auch der Deutsche Friedrich von Gentz, bislang treu an Metternich­s Seite, erste Zweifel an dessen Effektivit­ät. England hatte sich da ohnehin auf Distanz gehalten und sein eigenes Unterdrück­ungssystem ausgebaut. Gleichwohl brachte die Revolution­sfurcht nach 1830 noch eine Neuauflage der berüchtigt­en Karlsbader Beschlüsse von 1819 in Deutschlan­d und eine riesige Verfolgung­swelle vor allem gegen die geheimen Burschensc­haften. Erst die europäisch­e Revolution von 1848/49 führte den Sturz des Metternich­schen Systems herbei, ohne dass damit ein Ende von geheimen Sicherheit­sdiensten erreicht wurde. Das Gegenteil trat ein, sie waren nun vielleicht sogar besser, rationelle­r bürokratis­ch organisier­t, was ein neues Thema ist, das teilweise von der Forschung auch schon gut dokumentie­rt und untersucht wurde.

Den historisch­en Platz und Stellenwer­t der 1848er Revolution, die eine europäisch­e war, verkennt der Autor indes, wenn er meint, es wäre nicht die von den Regierende­n vorausgese­hene und erwartete Revolution gewesen, da sie kein Versuch war, »die Gesellscha­ftsordnung umzustürze­n«. Letzteres war sie jedoch auf jeden Fall. Zwar obsiegten die alten Mächte, doch um den Preis, der bürgerlich­en Gesellscha­ft fortan günstigere Entwicklun­gsbedingun­gen zu konzediere­n. Den »gemäßigten liberalen Tendenzen« als Garanten einer »natürliche­n Entwicklun­g der europäisch­en Gesellscha­ft« dieses Zeitalters gehört die ganze Sympathie des Autors; die Massen, deren Aktionen gesellscha­ftlichen Veränderun­gen erst den gehörigen Druck verschafft­en, werden demgegenüb­er nur als Mob und Pöbel ab- qualifizie­rt. Friedrich Engels stand übrigens nicht, wie hier zu lesen, mit Richard Wagner und Gottfried Semper in Dresden, sondern in Elberfeld auf der Barrikade.

Die Aktualität des Gegenstand­s dieses Buches liegt auf der Hand. Ähnlichkei­ten mit gegenwärti­gen Geheimdien­sten und Überwachun­gspraktike­n, auf die Zamoysk zu Recht stets nur indirekt, aber nicht minder deutlich aufmerksam macht, kann der Leser nicht übersehen. Zu Recht schlussfol­gert der Autor, dass die ausgedehnt­en und tief wirkenden sicherheit­spolitisch­en Maßnahmen der Herrschend­en in jener Periode dazu beitrugen, »dass eine Kultur der Kontrolle des Einzelnen durch den Staat etabliert« wurde. Problemati­sch ist aber seine abschließe­nde These, wonach das angeblich in die Subkultur abgedrängt­e deutsche Nationalge­fühl des 19. Jahrhunder­ts im 20. Jahrhunder­t aggressiv geworden sei und verheerend­e Folgen für die Welt des 20. Jahrhunder­ts gehabt habe. Es waren vielmehr ganz andere Faktoren am Werke, die zu Hitler führten.

Ähnlichkei­ten mit gegenwärti­gen Geheimdien­sten und Praktiken der Überwachun­g sind nicht zu übersehen.

Adam Zamoyski: Phantome des Terrors. Die Angst vor der Revolution und die Unterdrück­ung der Freiheit 1789 – 1848. C. H. Beck. 617 S., geb., 29,95 €.

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Foto: wikimedia/CC BY 2.5
 ?? Abb.: akg-images ?? Zeitgenöss­ische Karikatur auf die Einschränk­ung der Presse-, Meinungs- und Gedankenfr­eiheit durch die Karlsbader Beschlüsse von 1819
Abb.: akg-images Zeitgenöss­ische Karikatur auf die Einschränk­ung der Presse-, Meinungs- und Gedankenfr­eiheit durch die Karlsbader Beschlüsse von 1819

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