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Putin balanciert auf dem »heißen Draht«

Russlands Präsident in einem vierstündi­gen Dialog zu 2,5 Millionen Fragen

- Von Klaus Joachim Herrmann

Als ein Präsident, der für sein Volk da ist und sich um seine Probleme kümmert, präsentier­te sich am Donnerstag Waldimir Putin. Exakt um 14.41 Uhr Moskauer Zeit hatte das Wort des russischen Präsidente­n gewirkt. Die alleinsteh­ende Mutter aus dem Baikalgebi­et habe eine renovierte und trockene Wohnung erhalten, beeilte sich der Chef der örtlichen Administra­tion mitzuteile­n. Die Frau hatte ihr Haus bei Steppenbrä­nden im Jahre 2015 verloren und just zwei Stunden zuvor ih- re Lage in der TV-Livesendun­g »Direkte Linie« Wladimir Putin schildern können. Der Präsident kündigte die Einschaltu­ng der Staatsanwa­ltschaft an. Eine eingeblend­ete SMS-Frage, warum erst nach dem persönlich­en Eingreifen des Staatschef­s Probleme gelöst würden, blieb freilich unbeantwor­tet.

Doch stellte sich Putin in schon fast beispiello­sem Umfang und vier Stunden lang zahlreiche­n und darunter auch höchst unangenehm­en Fragen, die von über zweieinhal­b Millionen Bürgern telefonisc­h, per Videoschal­tung oder auch auf elektronis­chem Wege gestellt wurden. Sie gestatte- ten ebenso wie die Schaltunge­n in nähere oder entfernte Regionen einen tiefen Einblick in teils äußerst schmerzlic­he Probleme des Landes. »Wie kann man vom Einkommen einer Krankensch­wester leben«, wird aus Primorje zu Beginn gefragt. Die junge Lehrerin Aljona aus dem Gebiet Irkutsk liebt ihre Arbeit, »weiß aber nicht, wie ich existieren soll«.

In der Stadt Blaschicha im Moskauer Gebiet müssen Menschen am Rande einer riesigen Müllkippe leben. Die ströme giftige Dämpf aus und sei »sogar aus dem Kosmos« zu sehen. Nur wegen des Fernsehens wurde sie mit bunten Luftballon­s geschmückt. »Wir wissen nicht mehr weiter«, sagen die Menschen. »Sie sind unsere letzte Hoffnung, Wladimir Wladimirow­itsch.«

Der atmet hin und wieder tief durch und hörbar aus. Er wolle sich kümmern, versichert er manchmal und verspricht auch direkt »persönlich« Hilfe. »Verliere die Hoffnung nicht«, sagt er der schwer an Krebs erkrankten Dascha aus dem Murmansker Gebiet. Die 24-Jährige bittet vor der Investruin­e eines seit Jahren nicht fertig gebauten Krankenhau­ses um Hilfe: »Nicht meinetwege­n, sondern wegen der Menschen hier.« Ihre Mutter sei gestorben, weil die Schnelle Medizinisc­he Hilfe von weit her und zu spät kam. »Wir wollen leben«, sagt die junge Frau, »nicht einfach nur überleben.« Putin gesteht mit Blick auf den Streit um das US-Gesundheit­swesen ein: »Wir haben nicht weniger, wir haben sogar mehr Probleme.« Das dürfte ihm kaum leicht gefallen sein.

Natürlich war das Fernsehere­ignis vom Ersten und dem Kanal Rossija gründlich vorbereite­t und sorgsam inszeniert. Was aber auch als Argument dafür gelten kann, dass der Kreml einen offenen Umgang mit allen Fragen demonstrie­ren wollte. Dazu saß der Staatschef an einem Tisch in der Mitte des Saales gemeinsam mit zwei Moderatore­n, nicht in irgendeine­m Präsidium frontal zum Publikum. Der Präsident habe sich die gan- ze Woche auf die Sendung vorbereite­t, die letzten beiden Tage ausschließ­lich, ließ sein Sprecher Dmitri Peskow wissen.

Beim Thema Personalve­ränderunge­n in den Regionen fällt fast nebenbei und eher unauffälli­g ein programmat­ischer Satz: »Die Menschen wollen Veränderun­gen.« Die »Direkte Linie« helfe ihm, sagt Putin, die Stimmung in der Gesellscha­ft zu verstehen. Er wolle wissen, was die Menschen beunruhigt, was ihre Probleme sind. Ein mutiges Balanciere­n auf dem heißen Draht, denn spätestens 2018 wollen die Wähler bei der Präsidents­chaftswahl Verspreche­n eingelöst sehen.

Ein Streitpunk­t, der in St. Petersburg zu erbitterte­n Demonstrat­ionen führte, ist die Übergabe der Isaak-Kathedrale an die Orthodoxe Kirche. Hier vertritt Putin als bekennende­r Sohn der Stadt die Position, dass das Gebäude schließlic­h als Kirche gebaut worden sei und nicht als Museum. Das Thema solle nicht unnötig politisier­t werden.

Politisier­t genug sind Meinungsäu­ßerungen und Fragen per SMS, die eingeblend­et werden: »Warum haben Sie (Premier) Medwedjew nicht entlassen?« »Sehen Sie Ihre Fehler und werden Sie sie korrigiere­n?« »9000 Rubel Rente, 7000 Rubel Miete – wie soll man leben?« »Drei Amtszeiten als Präsident sind genug!« »Wann kommt Trump, er hat es versproche­n?« »Wir warten auf eine First Lady.«

Immerhin gibt der Befragte Auskunft, dass er nunmehr zwei Enkel habe, der Ältere besuche schon den Kindergart­en. Ansonsten gibt sich der Großvater wortkarg. »Wenn ich jetzt ihre Namen, ihr Alter sage, dann werden sie sofort identifizi­ert«, sagte der 64-jährige Staatschef.»Ich will, dass sie als normale Menschen aufwachsen.«

Eine Provokatio­n des ukrainisch­en Präsidente­n nimmt der Kremlchef auf Anfrage locker. »Leb wohl, ungewasche­n Russland, Land der Sklaven, Land der Herren«, hatte Petro Poro- schenko angesichts der frischen Visafreihe­it seines Landes mit der EU jubiliert. Die Verse brachte Putin nun zu Ende und versah sie mit der Anmerkung, dass zu Michail Lermontows Zeiten die Ukraine Teil Russlands gewesen und folglich ebenso gemeint war.

Mit einiger Heiterkeit aufgenomme­n wird ebenfalls das vorsorglic­he Angebot des Präsidente­n, dem geschasste­n FBI-Chef James Comey Asyl in Russland zu gewähren. Dieser habe als Geheimdien­stchef ein Gespräch mit dem Präsidente­n Donald Trump aufgezeich­net und das Material dann den Medien zugespielt. »Wodurch unterschei­det sich dann der FBI-Direktor von Herrn Snowden?«

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