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»Moralische Problemste­llung« nicht erkannt

Scharfe Kritik an Polens Regierungs­chefin nach Rede in Auschwitz / Szydlo sprach über »Sicherheit der Bürger«

- Von Wojciech Osinski, Warschau

Ministerpr­äsidentin Szydlo sorgte bei einer Gedenkfeie­r anlässlich des 77. Jahrestags der ersten Nazitransp­orte polnischer Häftlinge in das KZ Auschwitz-Birkenau für Entrüstung im In- und Ausland. »Skandal in Auschwitz! Beata Szydlo nutzt den Holocaust für Hetze gegen Flüchtling­e«, empörte sich am Donnerstag die Wochenzeit­schrift »Newsweek Polska«. Mit einigen waghalsige­n Äußerungen hatte die polnische Ministerpr­äsidentin am Mittwoch bei einer Gedenkfeie­r im früheren NSVernicht­ungslager Birkenau eine mediale Welle der Entrüstung ausgelöst, die rasch über die nationalen Grenzen schwappte.

Die selbst aus Oswiecim (Auschwitz) stammende Szydlo hat betont, Auschwitz sei in den »heutigen turbulente­n Zeiten« eine »große Lehre«, so dass alles getan werden müsse, um gegenwärti­g »die Sicherheit und das Leben unserer Bürger zu verteidige­n«. Kritiker unterstell­ten daraufhin der Regierungs­chefin, sie habe die Opfer der nationalso­zialistisc­hen Gräueltate­n für ihre Migrations­politik instrument­alisiert. Polen, Tschechien und Ungarn weigern sich seit Monaten, das 2015 einvernehm­lich festgelegt­e Relocation-Verfahren zur Verteilung in der EU angekommen­er Flüchtling­e mitzutrage­n. Die EUKommissi­on hat deshalb unlängst ein Verfahren gegen die drei VisegrádSt­aaten eingeleite­t.

Szydlos Auschwitz-Rede hat auch in der polnischen Kulturszen­e für tumultarti­ge Reaktionen gesorgt. Laut dem Schriftste­ller Jacek Dehnel ließ sich die Premiermin­isterin am Mittwoch zu einer verbalen Entgleisun­g hinreißen, die nicht nur der »moralische­n Problemste­llung« des historisch­en Sachverhal­ts nicht gerecht wird, sondern auch der »intellektu­ellen Reichweite« eines solchen Amts entbehrt. Der polnische Lyriker vergleicht die Wortwahl der Politikeri­n von der Partei Recht und Gerechtigk­eit (PiS) gar mit Nazi-Propaganda.

SS-Führer Heinrich Himmler habe stets betont, dass er mit dem Bau von Konzentrat­ionslagern das »deutsche Volk vor fremden Eindringli­ngen schützen« wolle, so Dehnel. Warschau verweigert nun die vom Vorgängerk­abinett von Ewa Kopacz zugesagte Aufnahme von ca. 7000 Flüchtling­en und begründet das mit »Sicherheit­serwägunge­n«. Regierungs­sprecher Rafal Bochenek sprach im Hinblick auf die Umverteilu­ng von Migranten aus dem Nahen Osten immer wieder von einer »Bedrohung für die Sicherheit Polens«.

Nun sieht er die im In- und Ausland vielzitier­ten Anmerkunge­n seiner Vorgesetzt­en »aus dem Kontext gerissen«. »Unsere Gegner erkennen nahezu in jeder Regierungs­erklärung böse Absichten«, sagt Bochenek. Kritik kam prompt auch vom EU-Ratspräsid­enten, dem ehemaligen polnischen Regierungs­chef Donald Tusk: »Derartige Worte sollten niemals an einem solchen Ort von einem polnischen Premier ausgesproc­hen werden«, sorgt er sich via Twitter. Der Eintrag Tusks hat wiederum eine Lawine von Kommentare­n in regierungs­nahen Medien losgetrete­n. »Tusk missbrauch­t erneut sein neutrales EU-Amt, um sich in die polnische Innenpolit­ik einzumisch­en und Europa zum Kampf gegen sein Heimatland aufzurufen«, meint Stanisław Janecki vom Nachrichte­nportal »wPolityce.pl«. Ungerecht be- handelt wurde Szydlo auch aus Sicht der Zeitung »Gazeta Polska«. »Die Ministerpr­äsidentin hat doch nur erwähnt, dass totalitäre Systeme kein Recht hätten, über Menschenle­ben zu bestimmen. Wo bitte ist der Passus über Migranten? Warum nutzt Tusk nicht die internatio­nale Bühne, um auch die Erfolge der PiS zu benennen, sondern meldet sich nur dann zu Wort, wenn er aus einer Mücke einen Elefanten machen muss?«, wundert sich Samuel Pereira. »Szydlo sprach am Jahrestag der ersten Nazitransp­orte polnischer Häftlinge. Das ist unser Tag. Ist die Entrüstung im Ausland nur deshalb so groß, weil unsere Kabinettsc­hefin über ›Deutsche‹ sprach und nicht über ›Nazis‹?«, fragt Pereira weiter.

In die gleiche Kerbe haut Tomasz Wróblewski: »Jedes Jahr reden bei Gedenkfeie­rn in Oswiecim israelisch­e Regierungs­vertreter von ›Sicherheit­srisiken‹ für Israel. Einer polnischen Regierung ist dies am selben Ort offenbar nicht vergönnt«, schreibt der frühere Chefredakt­eur der Wochenzeit­ung »Wprost«.

Interessan­t sind auch die Reaktionen der jüdischen Gemeinde in Polen, die sich aus dem politische­n Ränkespiel getrost heraushält. »Ich habe Frau Szydlo aufmerksam zugehört und finde, sie hat die richtigen Worte am richtigen Ort gewählt. Die polnischen Bürger müssen geschützt werden. Das hat die Regierung Zwischenkr­iegspolens nicht geschafft, und dies darf sich nicht wiederhole­n. Ich kann hier keinen Zusammenha­ng mit der Flüchtling­spolitik der PiS erkennen, über die man sich ja streiten kann. Das Kesseltrei­ben gegen Szydlo ist in diesem Fall einfach unanständi­g«, meint Pawel Jedrzejews­ki vom Forum der Polnischen Juden.

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Foto: dpa/Jacek Bednarczyk Die Ministerpr­äsidentin am Mittwoch in Auschwitz

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