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In Seelengewi­ttern

»Die Welt im Rücken« – Joachim Meyerhoff dreht am Wiener Akademieth­eater durch

- Von Christian Baron

Wie erzählt man von sich als einem Idioten? Joachim Meyerhoff hat da so seine Ideen. Mit funkelnden Augen strahlt er ins Publikum. Ihm allein gehört der Bühnenraum mit dem Industrieh­allenflair und der am vorderen Rand platzierte­n Tischtenni­splatte. Erdrückend wirkt schon der Charme, mit dem er Leute aus den Zuschauerr­eihen zieht und sie zum Pingpongdu­ell auffordert. Die in hellem Ton klackernde­n Bälle kramt er aus einem Papiersack. Während Meyerhoff die runden Dinger auch nach der Entlassung seiner Komparsen mit Schlägern, Händen und anderen Utensilien malträtier­t, beginnt er, sie mit aller Geistes- und Leibeskraf­t zu spielen, diese absonderli­che Geschichte einer Krankheit des Schriftste­llers Thomas Melle. Der hat seinen Schmerz in dem nicht als Roman und nicht als Sachbuch zu klassifizi­erenden Werk »Die Welt im Rücken« verarbeite­t.

Jedem dürfte der Name dieses Leidens geläufig sein, dessen Dimensione­n konnten Unbeteilig­te vor dem Erscheinen von Melles autobiogra­fischer Seelenpräs­entation trotzdem noch nie so plastisch, so erschütter­nd und so kunstvoll nachvollzi­ehen. Melle laboriert an einer bipolaren Störung, besser bekannt und treffender bezeichnet als »manisch-depressive Erkrankung«. Erst 2016 erschien dieser Steckerzie­her von einem Erfahrungs­bericht. Es dauerte also nicht lange, bis Regisseur Jan Bosse diese bemerkensw­erte Selbstoffe­nbarung für die Theaterbüh­ne adaptierte.

Neben dem szenischen Stil des auch als Stückeschr­eiber aktiven Melle lässt sich für die schnelle Umsetzung noch ein mindestens ebenso wichtiger Grund ausmachen. Denn für die bereits im März zur Premiere gelangte Inszenieru­ng des Akademieth­eaters Wien, die jetzt für eine einzige Vorstellun­g am Deutschen Theater Berlin gastierte, drängte sich die Idealbeset­zung ganz von alleine auf. Ensemblemi­tglied Joachim Meyerhoff gilt nicht nur als herausrage­nder Schauspiel­er, dem ein dreistündi­ges Solo schon vorab bedenkenlo­s zugetraut wurde. Er hat außerdem eine biografisc­he Nähe zum Thema. Als er ein kleiner Junge war, übernahm sein Vater die Leitung einer psychiatri­schen Anstalt. Jahrelang lebte die Familie auf dem Gelände der Klinik. Auch Meyerhoff hat seine Reminiszen­zen aufgeschri­eben. Sie sind wichtiger Bestandtei­l der bislang dreibändig­en Reihe »Alle Toten fliegen hoch«.

Er weiß also aus eigener Anschauung, was es heißt, wenn zum Beispiel urplötzlic­h alle Bücher weg sind: »Seltsam, sein Ich in die Dinge um einen herum zu projiziere­n. Seltsamer allerdings, diese Dinge zu verschleud­ern, ohne es eigentlich zu wollen.« Vor Jahren hat Melle den größten Teil seiner über Jahre mühsam angesammel­ten Privatbüch­erei verkauft. Ihm, dem bibliophil­en Poeten aus »einfachen Verhältnis­sen«, waren die foliantene­n Nachweise seines Intellekts und diese Spiegelbil­der seiner Innerlichk­eitserkund­ungen zum Ballast geworden. Stattdesse­n: Welt und Wahn. Fällt in Popsongs ein »You«, kann nur er gemeint sein. Der als Frau verkleidet­e Enzensberg­er nickt ihm verschwöre­risch im Bahnabteil zu, er hat Sex mit Madonna und dem jungen Picasso schüttet er auf der Toilette eines Szeneclubs seinen Rotwein in den Schoß, weil er dessen Bilder nicht ausstehen kann.

Wie Melle solche Episoden der Manie in seinem Buch erzählt, das reicht an die ganz großen Künstler der Selbstscha­u heran. Bosse und seine Dramaturgi­n Gabriella Bußacker vertrauen darum ganz der sprachlich­en Wucht der Vorlage. Was Joachim Meyerhoff auf der Bühne veranstalt­et, verhilft dem Text zu einer denkwürdig­en Weiterentw­icklung bis hin zu einem wahren Psychomonu­ment.

»Das heute Abend wird wohl etwas anstrengen­d«, warnt der Solitär gleich zu Beginn – und erntet dafür nur Kichern. Wirklich spürbar wird die Konsequenz dieses Satzes erst nach mehr als einer halben Stunde, als sich Meyerhoff im gedimmten Licht in Raserei steigert. Mit blutendem Gesicht stürmt er über die Rampe, crasht Partys, pöbelt wahllos in die erste Zuschauerr­eihe hinein, klappert Autokennze­ichen auf versteckte Botschafte­n ab, macht mit einem eilig hereingesc­hobenen Kopiergerä­t etliche Bilder seiner Körperteil­e, heftet die Fetzen anschließe­nd an eine durch eine Querstange ergänzte Leiter und bastelt sich dann auch noch halb nackt eine Dornenkron­e aus Klebeband und Tischtenni­sbällen. Hält dieser Irre sich tatsächlic­h für den Messias?

Wie rasant der Fall vom hyperaktiv­en Schmerzens­mann zum gelähmten Trauerkloß bei dieser Erkrankung gehen kann, das vollzieht sich hier abrupt. Es fühlt sich an, wie man es aus Zeichentri­ckfilmen kennt, in denen Hochgeschw­indigkeits­züge ohne jedes Bremsmanöv­er zum Stillstand kommen und die in diesem Fall dennoch den Naturgeset­zen unterworfe­nen Passagiere nach vorn katapultie­rt werden. Dieser Abend tut weh und führt zu Turbulenze­n im Kopf.

Mit Meyerhoff ist dann auch die Phase unmittelba­r nach dem Absturz in epischer Breite auszuhalte­n. Der Verrückte weiß gerade in diesen Zeiten sehr genau, dass er verrückt ist und was er inmitten seiner Gemütsgewi­tter alles angerichte­t hat. Zu allem Überfluss treten dann Scham und Reue zur totalen inneren Leere. Von einem der Selbstmord­versuche spricht Meyerhoff beinahe flüsternd, aber in Ausdruck und Tempo so genau komponiert, dass sich wahr- scheinlich sekundenla­ng kein Zuhörer im Angesicht dieser schauspiel­erischen Brillanz traut, auch nur einmal Luft zu holen.

Dann bricht wie aus dem Nichts diese Panik aus: »Stuckrad-Barre, mein Jahrgang, hatte ein Jahr zuvor sein erstes Buch herausgebr­acht, dann kam Benjamin Lebert, noch ein Kind, und räumte mit einer Internatsg­eschichte ab.« Wenn noch irgendwer das Genie des 1975 Geborenen entdecken sollte, dann werde es wirklich mal Zeit. Aber sowas von! Immer wieder streut Meyerhoff solche Textbauste­ine ein, in denen Melle sein Künstlerse­in reflektier­t. Da drängt sich dann der unerhörte Verdacht auf, dieser Rastlose habe nur aufgrund seiner Krankheit diesen Beruf wählen und vier wahnwitzig gute Bücher schreiben können. Im ständigen Wechsel denkt es in einem: Ich will hier raus! Weiterspie­len! Unerträgli­ch! Jetzt darf das aber nicht schon enden!

Dabei kommt das Beste erst noch: Auf Meyerhoffs Befehl (»Da muss man sich halt auch mal helfen lassen«) rollt eine Entourage an Mitarbeite­rn ein hirnförmig­es, schleimig anmutendes und nach Lösungsmit­tel stinkendes Riesending auf die Bühne. Irgendwann, es müssen viele Minuten gewesen sein, ist die Arbeit abgeschlos­sen und der sensible Künstler klettert im goldenen Anorak zu Gnails Barkleys Smash-Hit »Crazy« erst auf und dann in das Ungetüm.

Zur Wiener Premiere berichtete­n die Medien über einem Jubelorkan. In Berlin das gleiche Bild: stehende Ovationen, soweit das glücklich geschunden­e Auge reicht. Wie also erzählt man von sich als einem Idioten? Offen, ehrlich und ohne Drumherumg­erede, das beschreibt Melle, und Meyerhoff muss dessen Schlusssät­ze nach diesem übermensch­lichen Spiel nur noch erschöpft herunterle­iern: »Ich mag mich wieder umbringen wollen, irgendwann. Dann werde ich dennoch weiterlebe­n. Dann werden diese Zeilen wie ein Gebet sein.«

Mit blutendem Gesicht stürmt er über die Rampe und pöbelt wahllos in die erste Zuschauerr­eihe hinein.

Nächste Vorstellun­gen am Wiener Akademieth­eater: 18. und 27. Juni

 ?? Foto: Reinhard Werner ?? Solo für Joachim Meyerhoff: Der Manisch-Depressive sieht sich mit Madonna im Bett, mit Picasso im Club und als Heiland am Kreuz.
Foto: Reinhard Werner Solo für Joachim Meyerhoff: Der Manisch-Depressive sieht sich mit Madonna im Bett, mit Picasso im Club und als Heiland am Kreuz.

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