Der Übermuslim als Märtyrer
Wie lässt sich das Verlangen, sich im Namen des Islam zu opfern, das so viele junge Menschen ergriffen hat, verstehen? Was zieht sie in den Bann und treibt sie zu den furchtbarsten Taten? Dieser Essay schlägt eine Erklärung vor, in dessen Zentrum eine Figur steht, die ich »Übermuslim« genannt habe ...
Das Schreckgespenst des Übermuslims ist mir zum ersten Mal im Zuge meiner klinischen Arbeit während einer Sprechstunde in einem psychologischen Zentrum im Departement Seine-Saint-Denis begegnet. Über viele Jahre konnte ich immer deutlicher das quälende Gefühl beobachten, »nicht muslimisch genug zu sein«, das viele dazu brachte, einen flammenden Glauben zu entwickeln ... Bei der Analyse des Diskurses radikaler Islamisten ist das Motive der »Kränkung des islamischen Ideals« aufgetaucht, von dem ein Ruf nach Wiedergutmachung, ja sogar nach Rache ausgeht ...
Es braucht keinen Beweis dafür, dass die Kriege, die einen Teil der muslimischen Welt heimsuchen, Zerstörungskräfte freigesetzt haben, in deren Folge zahlreiche Akteure des realen Theaters der Grausamkeit auftreten: Opfer und Henker, Helden und Verräter, Terroristen und Terrorisierte usw., und insbesondere der gefährlichste dieser Akteure, der »Märtyrer«, dessen Fähigkeit zur Brandstiftung überall auf der Welt in direktem Zusammenhang mit dem Opferwillen steht.
Doch darf man nicht den andauernden Bürgerkrieg übersehen, der seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen den Muslimen herrscht und bei dem es um die entscheidenden Fragen geht: »Was heißt es, ein Muslim zu sein? Wer hat die Macht, es zu definieren? Was bedeutet es, Mann oder Frau zu sein? ... Auf diesem Nährboden, auf dem nichts mehr klar zu sein scheint und die identitären Gewissheiten zusammengebrochen sind, hat der Islamismus den inneren Feind (die ursprüngliche Definition des Über-Ichs bei Freud) des Muslims sprießen lassen, der die Obsession des Übermuslims in ständige Angst versetzt.
Insofern ist auf Karl Marx’ Epoche des »Seufzers der bedrängten Kreatur« eine Zeit der Wut des blind Opfernden gefolgt, der nicht davor zurückschreckt, sich selbst in seine mörderische Tat einzuschließen.
Aus Fethi Benslama »Der Übermuslim. Was junge Menschen zur Radikalisierung treibt« (Matthes & Seitz, 141 S., geb., 18 €).