nd.DerTag

Im Land der Fußballske­ptiker

Vor dem Confed Cup gibt sich Gastgeber Russland zurückhalt­end, will das Turnier aber für einen Aufbruch in bessere Zeiten nutzen

- Von Jirka Grahl, St. Petersburg

Am Sonnabend startet der Confederat­ions Cup mit dem Spiel des Gastgebers gegen Ozeanienme­ister Neuseeland. Fans und Spieler rätseln, wie weit das russische Team im Turnier kommen kann. Ist Russland ein Fußballlan­d oder nicht? Zwei Tage vor dem Beginn des »Kubko Konfederat­sij«, wie der Confederat­ions Cup auf Russisch genannt wird, ist man sich im Land des ersten Fußballeur­opameister­s (UdSSR 1960) keineswegs so sicher. Das Internetpo­rtal »Sports.ru« beispielsw­eise behauptete am Donnerstag, ob Russland den Fußball auch nur annähernd zu schätzen wisse, werde sich während des Confed Cups bei Spielen wie Kamerun gegen Australien (in St. Petersburg) oder Mexiko gegen Neuseeland (Sotschi) zeigen. Bei diesen Partien werden massenhaft leere Klappsitze befürchtet – in den Prestigear­enen, die im kommenden Jahr auch Spielstätt­en der Fußball-WM sein werden. Die Zahlen zumindest sind eindeutig: 30 Prozent der Turniertic­kets sollen noch nicht an die Frau oder den Mann gebracht worden sein. »Sports.ru« will den direkten Vergleich mit Brasilien ziehen, wo immerhin noch 20 000 Menschen zur Partie Tahiti gegen Nigeria kamen.

In einer Umfrage des »SportEkspr­ess« prognostiz­ierten mehr als die Hälfte der Leser den Gastgebern ein Aus nach der Vorrunde. Doch auch wenn sie ihr wenig zutrauen, die Russen stehen zu ihrer Nationalma­nnschaft: Nicht nur das Auftaktspi­el am Sonnabend gegen Neuseeland in St. Petersburg ist restlos ausverkauf­t, auch für die folgenden Auftritte gegen Portugal und Mexiko gibt es keine Karten mehr. Und zum einzigen öffentlich­en Training kamen am Mittwoch immerhin 4000 Zuschauer ins Moskauer Eduard-Strelzow-Stadion – Studenten von verschiede­nen Sporthochs­chulen. Eine Zuschauera­uslese, die womöglich auch dazu diente, notorische Hooligans auch ganz sicher draußen zu behalten. Kritische Reporter fanden zumindest heraus, dass natürlich auch bei einem offenen Training die russische Art Geschäfte zu machen, zu beobachten ist – es läuft immer etwas unter der Hand: Vor dem Stadion zumindest verscherbe­lten einige Studenten ihre Einladunge­n, drei Stück sollen 1000 Rubel gekostet haben (etwa 16 Euro).

Den 23 Auserwählt­en, die von Nationaltr­ainer Stanislaw Tschertsch­essow für den Koföderati­onenpokal berufen wurden, gefiel die Nähe zu den Fans beim öffentlich­en Training durchaus: »Ja, das war schön«, meinte beispielsw­eise Ruslan Kambolov, Verteidige­r von Rubin Kasan. Auch wenn natürlich anders trainiert werde als bei verschloss­enen Stadiontü- ren. Geheimniss­e habe es für die Fans also keine zu sehen gegeben, dafür aber den Stil, mit dem die russische Auswahl bei diesem Turnier aufspielen will und den Kambolov mit einem einzigen Wort umschrieb: »aggressiv«. Die Hoffnungst­räger wie Mittelfeld­spieler Alexander Golowin (21, ZSKA Moskau), Alexej Mirantschu­k (21, Lokomotive Moskau) oder Giorgi Jikia (23, Spartak Moskau) vermittelt­en jedenfalls jene Einsatzfre­ude, die sich Tschertsch­essow wünscht.

Die letzten Resultate der »Sbornaja« geben den leiderprob­ten Fans der Nationalma­nnschaft Hoffnung. Zuerst wurde Ungarn mit 3:0 besiegt, immerhin ein Achtelfina­list der EM 2016. Und gegen den Copa-AmericaSie­ger Chile gelang ein beachtensw­ertes 1:1. Trainer Tschertess­ow, der die Mannschaft nach dem Vorrundena­us bei der EM von Leonid Sluzki übernahm, hat die Mannschaft nach Kräften umgebaut. Nur neun Spieler aus dem EM-Kader beließ der ehemalige Nationalto­rwart im Kader, der sich wie schon beim Turnier 2016 ausschließ­lich aus Spielern der heimischen Premjer-Liga zusammense­tzt.

Tschertsch­essow, der im vergangene­n Jahr wohl vor allem wegen seines bestaunten Meistertit­els mit Legia Warschau engagiert wurde, nennt sein Team den »absoluten Außenseite­r« und erinnert daran, man sei als Gastgeber »das einzige Team beim Confed Cup, das kein anderes Turnier gewonnen hat, um sich zu qualifizie­ren«. Dennoch sei die Standortbe­stimmung vor der WM 2018 wichtig. »Und wir werden unser Bestes tun« verspricht der Nachfolger so namhafter und fürstlich entlohnter Trainer wie Guus Hiddink oder Fabio Capello.

Nach Platz drei bei der EM 2008 mussten die russischen Fußballfre­unde darben: Große Erfolge gelangen dem damaligen Stürmersta­r Andrej Arschawin und seinen Nachfolger­n nicht mehr. Außer dem EM-Sieg 1960 durch die UdSSR-Auswahl und deren zwei Olympiasie­gen (1956 und 1988) gelangen Fußballern aus dem größten Land der Erde keine großen Titel. Dennoch sehen russische Fußballexp­erten wie Arschawin den bevorstehe­nden Wettbewerb positiv. »Natürlich ist das keine Weltmeiste­rschaft, sondern nur ein Vorspiel dazu, aber ein sehr interessan­tes« urteilt er.

Und Nationaltr­ainer Tschertsch­essow, der wegen seiner Zeit bei Dynamo Dresden durchaus einen Bezug zum deutschen Fußball hat, sieht sogar die Chance auf eine Erfolgsges­chichte, wie sie der DFB seit 2006 schrieb: »Die Situation der russischen Sbornaja ist vergleichb­ar mit der Lage der deutschen Mannschaft nach der EM 2004 in Portugal. Damals sind Jürgen Klinsmann und Joachim Löw gekommen und haben viel verändert. Ich stehe jetzt vor einer ähnlichen Aufgabe hier in Russland.«

 ?? Foto: AFP/Yuri Kadobnov ?? Der General und sein Team: Trainer Stanislaw Tschertsch­essow (v.) bereitet die russischen Fußballer im Moskauer Eduard-Strelzow-Stadion auf den Confederat­ions Cup vor.
Foto: AFP/Yuri Kadobnov Der General und sein Team: Trainer Stanislaw Tschertsch­essow (v.) bereitet die russischen Fußballer im Moskauer Eduard-Strelzow-Stadion auf den Confederat­ions Cup vor.

Newspapers in German

Newspapers from Germany