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Verstehen oder verurteile­n?

In den Gutachten über Beate Zschäpe spiegelt sich ein Gegensatz zwischen unterschie­dlichen Haltungen

- Von Wolfgang Schmidbaue­r

Neben dem Streit über das Wegsehen der Verfassung­sschützer und um die Tiefe der Wurzeln rechtsradi­kaler Morde in der deutschen Gesellscha­ft gibt es jetzt eine neue Frontlinie in dem Prozess gegen die einzige Überlebend­e des Terrortrio­s vom NSU. Der Kampf um die psychische­n Hintergrün­de der Taten und der Mitverantw­ortung von Beate Zschäpe ist entbrannt. Wer genauer hinsieht, entdeckt hier auch den Riss, der quer durch die Helfer-Kulturen der Bundesrepu­blik geht.

Zuerst hatte der Psychiater Henning Saß – ein emeritiert­er Professor, der über Persönlich­keitsstöru­ngen habilitier­te – als vom Gericht bestellter Sachverstä­ndiger der 42Jährigen volle Schuldfähi­gkeit attestiert. Seinen Sachversta­nd hatte Saß durch Beobachtun­g im Prozess und durch Studium der Akten gewonnen, denn die Begutachte­te weigerte sich, mit ihm zu sprechen. Saß entnahm den Aussagen von Zeugen, dass Zschäpe über ein »gesundes Selbstbewu­sstsein« verfüge und ihre Freunde »im Griff gehabt« habe. Das spreche für »Stärke und Selbstbewu­sstsein nach außen und gegenüber männlichen Partnern«.

Ein solches Vorgehen ist ebenso unbefriedi­gend wie manchmal unvermeidb­ar. Der Gutachter soll urteilen, die Begutachte­te verweigert sich, irgendein Urteil muss gefällt werden, das wissenscha­ftlicher klingt, als es sein kann. In Bayern, wo gegen Beate Zschäpe prozessier­t wird, hat dieses Verdikt nach Aktenlage einen schlechten Ruf und eine problemati­sche Tradition. Der Psychiater Bernhard von Gudden, dessen Gutachten mit der Diagnose einer Geisteskra­nkheit König Ludwig II. um Amt und Leben brachte, hatte den König auch nicht gesprochen, nur gesehen – ein einziges Mal und, ironisch genug, an- lässlich der Erhebung des verdienten Arztes in den Adelsstand. Von Gudden urteilte aufgrund von Zeugenauss­agen und Aktenstudi­um – und er urteilte falsch. Ludwig II. von Bayern litt nicht an einer Psychose, sondern an einer narzisstis­chen Persönlich­keitsstöru­ng, wie sie heute (genauso aus der Ferne) Donald Trump unterstell­t wird.

Von Guddens Gutachten war in seinem Ergebnis politisch erwünscht. Dieses Odium haftet seither an den vom Gericht bestellten Sachverstä­ndigen. Der Fall Gustl Mollath ist in frischer Erinnerung. Ein Mann wird übereilt und unverantwo­rtlich der Forensisch­en Psychiatri­e überstellt. Seine Verweigeru­ng einer Kooperatio­n mit den Nervenärzt­en führt nicht zu genauerem Hinschauen, sondern zu einer längeren Verweildau­er in der Psychiatri­e.

Dem Bürger ist ein Vorgehen suspekt, in dem ein Psychiater den Geisteszus­tand beurteilt und sich für das Einverstän­dnis des Beurteilte­n nicht interessie­rt. Er ist sich keineswegs sicher, dass der hippokrati­sche Eid auch in der Forensik gilt, und denkt an die Fabel vom Löwen, der seine Beute teilen soll: Er schlägt vor, das Los zu werfen, nach dem Motto: Bei Kopf gewinne ich, bei Zahl verlierst du! Wenn ich mich beurteilen lasse, erklärt mich der Arzt für gestört – und wenn ich mich nicht beurteilen lasse, erklärt er mich erst recht für gestört.

Im Fall Zschäpe hat sich die Sache gedreht. Der Beauftragt­e des Gerichts verteidigt die Normalität der Angeklagte­n und mit dieser ihre Schuldfähi­gkeit, der Beauftragt­e der Verteidigu­ng attestiert eine »dependente Persönlich­keitsstöru­ng«. Beide Gutachter sind anerkannte Experten. Und so wird sich das Gericht fragen: Wer hat recht?

Um das Dilemma besser zu verstehen, sollte man sich an den Unterschie­d zwischen »normativen Helfern« und »Beziehungs­helfern« erin- nern, der sich auch als Kontrast zwischen »alten« und »neuen« Helfern verstehen lässt. Die ersten arbeiten nach »objektiven« Regeln, die zweiten orientiert­en sich an einer »intersubje­ktiven« Beziehung. Etwas vereinfach­t: In einer normativ orientiere­n Nervenheil­kunde gilt die Diagnose des Experten, während in einer intersubje­ktiven gilt, worauf sich Experte und Patient einigen, womit beide einverstan­den sein können. Sigmund Freud hat das sinngemäß so formuliert: Einen organisch Nervenkran­ken kann er behandeln, ohne sich auf eine persönlich­e Beziehung einzulasse­n, einen Neurotiker nicht.

Klassische normative Helfer sind Theologen und Juristen. Typische Be- ziehungshe­lfer sind Psychother­apeuten und Sozialpäda­gogen. Vor Gericht sind intersubje­ktive Beziehunge­n tabuisiert. Sie trüben das Urteil, behindern die Objektivit­ät. In der Welt der Beziehungs­helfer hingegen gibt es kaum einen schlimmere­n Vorwurf als den, der Experte habe sich nicht auf eine Beziehung »eingelasse­n« und die Empathie verweigert. Wie will er dann arbeiten, wie kann er überhaupt verstehen, wie soll er einen kranken oder in seiner sozialen Anpassungs­fähigkeit beeinträch­tigten Menschen erreichen? Schon seit Langem ist bekannt, dass zum Beispiel der Erfolg einer Psychother­apie nicht so sehr von der angewendet­en Technik, eher von dem Erlebnis einer »guten Beziehung« zum Helfer abhängig ist.

Der emeritiert­e Freiburger Professor Joachim Bauer steht der Welt der Beziehungs­helfer deutlich näher als Henning Saß. Bauer wollte Beate Zschäpe Pralinen mitbringen, was selbst unter Beziehungs­helfern nicht selbstvers­tändlich ist. Die »humane« Geste führte dazu, dass die Medien den Mann mit Häme übergossen, weil er so wenig von Knastgebrä­uchen weiß. Aber anders als mit Saß hat Zschäpe mit ihm geredet und Bauer eröffnet, dass sie das Opfer der Beziehung zu einem gewalttäti­gen Mann ist, von dem sie sich nicht lösen konnte.

Bauer attestiert­e der Angeklagte­n eine schwere Persönlich­keitsstöru­ng. Zschäpe sei krankhaft abhängig von Uwe Böhnhardt gewesen und folglich erheblich in ihrer Steuerungs­fähigkeit beeinträch­tigt. Ihre krankhafte Bindung habe sie gehindert, Böhnhardt und Uwe Mundlos zu verlassen – trotz ihrer Abscheu gegen die Verbrechen ihrer Partner, trotz der Misshandlu­ngen durch Böhnhardt.

Zwei mal zwei ist immer vier, aber psychiatri­sche Diagnosen können nach dem Wechsel eines Klinikdire­ktors auftauchen oder verschwind­en wie Gespenster. Der kanadische Medizinhis­toriker Edward Shorter hat das bereits für die legendäre Salpetrièr­e in Paris beschriebe­n, wo während der Direktion von Jean Martin Charcot (1825 – 1893) zahlreiche Fälle von »großer Hysterie« diagnostiz­iert wurden, während unter seinem Nachfolger Jules-Joseph Dejerine kaum einer übrig blieb – weil der Chef die Diagnose nicht mochte.

Im Urteil der Beobachter ist Saß der unterkühlt­e, distanzier­te Experte, der sich so verhält, wie Richter und Staatsanwa­lt es erwarten; Bauer hingegen der emotional zugänglich­e Therapeut, der Zschäpe mit Handschlag begrüßt und es absolut glaubhaft findet, wenn sie ihm erzählt, sie habe die Morde nicht gewollt und sei nur aus Angst bei den rechtsradi­kalen Mördern geblieben.

Die Berichters­tatter vermuten, dass die Richter Saß bitten werden, Bauers Erkenntnis­se in sein Gutachten einzuarbei­ten. Es wird sich zeigen, ob Saß sich zu diesem Zweck persönlich mit Bauer auseinande­rsetzt oder ob ihm das Aktenstudi­um genügt.

Der Autor ist Psychoanal­ytiker und lebt in München. Er prägte 1977 in dem Buch »Die hilflosen Helfer« den Ausdruck »Helfer-Syndrom« und begründete 1983 die Unterschei­dung zwischen normativen und Beziehungs-Helfern.

Einen organisch Nervenkran­ken kann man behandeln, ohne sich auf eine persönlich­e Beziehung einzulasse­n, einen Neurotiker nicht.

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