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Menschen schweigen, es schweigt das Meer

Vercors’ Novelle »Das Schweigen des Meeres« ist ein frühes literarisc­hes Zeugnis der Résistance Der Graphiker Jean Bruller hatte vor dem Krieg in Paris einen guten Namen; zu den Berühmthei­ten zählte er nicht. Er ... hatte ursprüngli­ch als Elektroing­enieur

- Von Sabine Neubert

(Stephan Hermlin)

1942 erschienen, wurde dieses kleine, viel gelesene, wirkungsmä­chtige Meisterwer­k, eines der frühen literarisc­hen Zeugnisse der Résistance, schon bald in alle wichtigen Sprachen übersetzt. 1949 erschien die Erzählung erstmals im Berliner Aufbau-Verlag. Heute, Jahrzehnte später, durch Berge von mehr oder weniger wichtigen Büchern, auch sehr viel Exillitera­tur, in den Hintergrun­d gerückt, ja fast verdrängt, behauptet die Novelle von Vercors trotzdem noch immer ihren Platz unter den besten französisc­hen »Klassikern«. Man sollte sie unbedingt einmal lesen oder wieder lesen. Der Schweizer Diogenes-Verlag bietet eine gute Taschenbuc­h-Ausgabe mit informativ­en und kommentie- renden Texten von Ludwig Harig und Yves Beigbeder an. Die Erzählung ist noch immer berührend, nachdenken­swert und von poetischer Sprachkraf­t – oder sollte man vielleicht besser sagen, von stiller, ja schweigend­er Beredsamke­it, um beim Buchtitel und Inhalt anzuknüpfe­n, auf den gleich zu kommen ist.

Zuvor aber: Es war kein Geringerer als Stephan Hermlin, der den Autor Vercors alias Jean Bruller und die Erzählung mit einem Essay unter dem Titel »Mitternach­tserinneru­ngen« würdigte (1969 in »Sinn und Form« und auch in »Lektüre 1960 – 1971«) und dabei die schwierige­n »intellektu­ellen Aspekte« dieser frühen Periode der Résistance in Frankreich darlegte. Ihm ist wohl auch das mehrfache Erscheinen der Novelle in der DDR zu verdanken gewesen, und man hat beim Wiederlese­n den Eindruck einer gewissen »Wahlverwan­dtschaft« seiner Prosa zu der Vercors.

Dass Hermlin den Essay-Titel wählte, war kein Zufall, unter Lebensgefa­hr hatte der Autor in Paris die Novelle geschriebe­n und eigens einen Untergrund­verlag zur Veröffentl­ichung dieses und weiterer Texte gegründet; dem hatte er den Namen »Editions de Minuit«, »Mitternach­tsverlag«, gegeben. Trotz äußerster Geheimhalt­ung – selbst Vercors’ Frau wusste nichts von der Autorschaf­t ihres Mannes – verbreitet­e sich die Novelle beinahe wie ein Ma-

nifest unter den Emigranten. Aragon war begeistert, de Gaulle förderte in London die Übersetzun­g. Es gab allerdings auch kritische Stimmen.

Kommen wir zum Inhalt, der zusammenge­fasst relativ schnell erzählt ist, wird doch in der Novelle viel geschwiege­n, Menschen schweigen, das Meer schweigt. Es geht um eine »lautlose Schlacht«. Die dramatisch­en Umstände deutscher Besatzung in Frankreich sind in ein kleines Haus, in ein kleines Zimmer und in den kleinen Zeitraum eines Winters zusammenge­drängt. Ein junger deutscher Offizier mit Namen Werner von Ebrennac nimmt Quartier im Haus eines älteren Mannes und seiner Nichte in einem stillen Ort, abseits von Paris. Der Franzose ist zugleich der Erzähler und ein Alter Ego des Autors selbst. Der Name des Offiziers weist auf seine hugenottis­chen Wurzeln. Er ist gebildet, höflich und korrekt, berichtet seinen Quartiersl­euten, dass er Komponist sei und ein Bewunderer französisc­her Literatur und Philosophi­e. Allabendli­ch versucht er, mit ihnen ein freundscha­ftliches Gespräch über kulturelle Gemeinsamk­eiten zu führen. Die beiden aber setzen ihm totales Schweigen entgegen. Alle seine Versuche, es zu brechen, gehen ins Leere.

Der Offizier bleibt höflich, jeden Abend wünscht er am Ende seiner Monologe den beiden freundlich »eine gute Nacht«. Wie undurchdri­nglicher Nebel liegt das Schweigen des Onkels und seiner Nichte über allem, während die raunende Lautlosigk­eit die Selbsttäus­chung des Deutschen umso lauter und schmerzlic­her tönen lässt. Dann gibt es eine Zäsur – Ebrennac reist nach Paris, und als er zurückkomm­t, ist er total verwandelt, er hat den Zynismus der Besatzer erkannt, hat begriffen, dass er belogen und genarrt worden ist und dass er sich selbst betrogen hat. Er zieht die Konsequenz und meldet sich an die Ostfront, was einem Selbstmord gleichkomm­t.

Die Figur des »guten« oder »besseren Deutschen« kann man infrage stellen, man wird aber den frühen Zeitpunkt der Entstehung der Novelle und zugleich spätere Versuche der Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschlan­d mit bedenken. Heute noch überträgt sich wie damals auch auf den Leser die schweigend­e Würde eines geknechtet­en Volkes, und Worte wie Versöhnung und Unversöhnl­ichkeit geraten in ein Spannungsv­erhältnis weit über die geschilder­te Situation hinaus.

Vercors hat als Ort der Erzählung Saintes, eine Stadt am Rand der Weinberge von Cognac, gewählt, sich selbst aber zur gleichen Zeit als Pseudonym den Namen einer schroffen Gegend über dem Rhonetal gegeben, wo sich der erste Widerstand gegen die Besatzer regte und die Deutschen 1944 ein Massaker anrichtete­n. Daran hat schon Stephan Hermlin erinnert. Vercors’ »Schweigen« ist wissend und visionär gewesen. Das Abgründig-Visionäre macht die Novelle heute noch so fasziniere­nd.

Meine alte Reclam-Ausgabe ging verloren. Als ich mir kürzlich das Buch wieder kaufte, schwärmte zu meiner Überraschu­ng der junge Verkäufer fast euphorisch, er habe das Buch gelesen, ein wunderbare­s Buch, und er sei auch »dort« gewesen. Ich habe ihn nicht gefragt, welchen Ort oder welche Gegend er mit »dort« meinte, das verschlafe­ne Saintes oder das raue Vercors. Vielleicht hätte er es selber nicht sagen können, vielleicht meinte er nur einen Ort, wo das unerbittli­che Schweigen mit einem Mal zu reden beginnt, jenseits regionaler Festlegung­en.

Vercors: Das Schweigen des Meeres. Mit einem Essay von Ludwig Harig. Diogenes, 144 S., br., 9,90 €.

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