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Sanktionen von Schülern für Schüler

Junge »Richter« im Harz sind 14 bis 19 Jahre alt

- Von Theresa Held

Oberharz am Brocken. Seit fast zehn Jahren sitzen Schüler im Harz über Straftaten Gleichaltr­iger zu Gericht. 64 Schülerric­hter haben bisher etwa 350 Fälle verhandelt, teilte das Justizmini­sterium mit. Es geht um Diebstähle, Sachbeschä­digungen, Hausfriede­nsbrüche, Beleidigun­gen. Die Schülerric­hter sind zwischen 14 und 19 Jahre alt. Sie bekommen die Fälle von der Staatsanwa­ltschaft zugewiesen.

Während der Verhandlun­gen, die jeden dritten Sonnabend im Monat stattfinde­n, nähmen sich die Jugendlich­en Zeit, mit den Beschuldig­ten auch grundsätzl­iche Fragen zu diskutiere­n, sagte Evelyn Zinke vom Anti-Gewalt-Zentrum (AGZ) Harz, die das Projekt mitgegründ­et hat. »Die Schülerric­hter fragen einen Jungen, der eine Mutprobe unter Freunden gemacht hat, schon mal, was ihm Freundscha­ft bedeute«, sagte sie. Dann beraten die Schülerric­hter über passende Sanktionen – das Wort »Strafe« wird von ihnen nicht verwendet. Das kann eine Entschuldi­gung sein, das Verfassen eines Aufsatzes oder gemeinnütz­ige Arbeit. »Ein musikalisc­her Jugendlich­er hat auch schon mal einen Song komponiert und fünf Täter aus einem Gymnasium haben einen Film über ihre Tat gedreht«, so Zinke. Wenn der Beschuldig­te die Sanktion innerhalb von vier Wochen erfüllt, stellt die Staatsanwa­ltschaft das Verfahren ein.

Vor Gleichaltr­igen können sich viele Beschuldig­te offener mit ihrer Tat auseinande­rsetzen als vor dem Richter in Robe«, lobte Justizmini­sterin Anne-Marie Keding (CDU) das Projekt. Jugendstra­frechtler Klaus Breymann sieht das anders: »Gleichaltr­igkeit allein ist kein Kriterium«, sagte er. Entscheide­nd sei die Schicksals­gleichheit. Es nütze nichts, wenn eine Gymnasiast­in, die von ihren Eltern Reitunterr­icht bezahlt bekommt, einem Sekundarsc­hüler,

»Vor Gleichaltr­igen können sich viele Beschuldig­te offener mit ihrer Tat auseinande­rsetzen als vor dem Richter in Robe.« Anne-Marie Keding, Justizmini­sterin Sachsen-Anhalts

dessen Mutter alkoholkra­nk ist, Sanktionen auferlege. Das verfestige das soziale Gefälle möglicherw­eise eher. »Alle begehen im Jugendalte­r mal kleinkrimi­nelle Delikte.« Wenn diese Rolle des Kleinkrimi­nellen dann breitgetre­ten werde, könne das sogar schädliche Folgen haben. »Ich bin darum dafür, die Schülerger­ichte abzuschaff­en«, so Breymann. Er verspreche sich mehr von einem eindringli­chen Ermahnungs­gespräch zwischen Täter und Staatsanwa­lt.

Wie hoch die Zahl der Harzer Beschuldig­ten ist, die nach einer Verhandlun­g wieder straffälli­g geworden sind, konnte Zinke nicht sagen. »Das wollen wir zum zehnjährig­en Jubiläum im Oktober auswerten. Die Rückmeldun­gen von Eltern und Tätern sei aber durchweg positiv. Auch die Schülerric­hter profitiert­en. Sie kämen aus allen Schulforme­n. Um Richter zu werden, müsse ein Schüler die Idee des Projekts verstehen und eine gewisse Empathie haben. Sechs Monate werden die Anwärter in Seminaren ausgebilde­t.

Die Fälle, die vor dem Schülerger­icht beraten werden, müssen bestimmte Kriterien erfüllen: Der Beschuldig­te muss Ersttäter und geständig sein. Zudem müssen er und seine Eltern einverstan­den sein. Ähnliche Projekte gibt es auch in einzelnen Landkreise­n anderer Bundesländ­er.

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