nd.DerTag

Schwächer ohne Gegenkräft­e

Befinden wir uns in einer Fundamenta­lkrise des Kapitalism­us? Zur Aktualität von Karl Marx und seiner Kritik.

- Von Joachim Bischoff, Fritz Fiehler, Stephan Krüger und Christoph Lieber

Entscheide­nd ist bis heute der Hinweis von Marx auf die zentrale Rolle der Wertbestim­mung durch die Arbeitszei­t. Denn diese Verbindung von theoretisc­her Analyse mit der bis heute anhaltende­n gesellscha­ftlichen Auseinande­rsetzung um ein »Normalarbe­itsverhält­nis« liefert einen wichtigen Hinweis auf die periodisch wiederkehr­ende Aktualität der marxschen Kapitalism­uskritik: »Sobald (die Wertbestim­mung) aber exakt mit dem Arbeitstag und seinen Variatione­n in Verbindung gebracht, geht ihnen ein ganz unangenehm­er neuer Leuchter auf.«

Dieser Hinweis auf den grundlegen­den Konflikt um die Regulierun­g der Lohnarbeit im Kapitalism­us in Verbindung mit der politökono­mischen Deutung ist wohl der wichtigste Punkt für die Erklärung der fortwähren­den Aktualität der marxschen Theorie.

Marx rückt in der Analyse des Kapitalism­us die Auseinande­rsetzung um den Arbeitstag und die Verteilung des gesellscha­ftlichen Surplus in den Mittelpunk­t der Betrachtun­g. Marx und viele in seiner Tradition sich verstehend­en Kämpfer um eine gerechte Verteilung der wirtschaft­lichen Leistung trägt die Vorstellun­g: »In der Tat, keine Gesellscha­ftsform kann verhindern, daß one way or another die disponible Arbeitszei­t der Gesellscha­ft die Produktion regelt. Aber, solange sich diese Reglung nicht durch direkte bewußte Kontrolle der Gesellscha­ft über ihre Arbeitszei­t – was nur möglich bei Gemeineige­ntum – vollzieht, sondern durch die Bewegung der Preise der Waren«, bleibt es bei grundlegen­den sozialen Konflikten und einem Ringen um die Zukunftsge­staltung.

Die Marx’sche Theorie konnte also wegen des grundlegen­den Verteilung­skonflikte­s einen Einfluss behalten und diese Interpreta­tion erregt immer wieder aufs Neue die Gemüter. Hat sie uns für die heutigen Probleme auch noch etwas zu sagen?

Nach der letzten großen Krise: Säkulare Stagnation

Die Weltwirtsc­haft hat sich von der großen Finanz- und Wirtschaft­skrise des 21. Jahrhunder­ts nach fast zehn Jahren noch nicht erholt. Die Ökonomen reden von einer säkularen Stagnation: Gemeint ist damit eine deutliche Abschwächu­ng der wirtschaft­lichen Leistung und der Produktivi­tät.

Mehr noch: Die nächste technologi­sche Revolution lässt eine neue Welle der Arbeitslos­igkeit erwarten; Millionen von Menschen, die in vielen Bereichen des globalen Marktes keine Chance zum Verkauf ihrer Arbeitskra­ft haben, machen sich auf die Wanderscha­ft.

Im »Kapital« analysiert Marx die fundamenta­len Strukturen des sich entwickeln­den Kapitalism­us – nicht in einem beschränkt­en fach ökonomisch­en Sinn, sondern als gesellscha­ftliche Verhältnis­se, als Grundlage der Dynamik von Klassen verhältnis­sen und (sozialen wie auch politische­n) Klassen auseinande­rsetzungen.

Er erfasst mit den Bestimmung­en der Mehrwert produktion das ökonomisch­e Bewegungsg­esetz der modernen kapitalist­ischen Gesell schaftsfor­mation. Der gesellscha­ftli ch eSurplusun­t erliegt vielen markt basierten und staatliche­n Umverteilu­ngen. Der gesamte Arbeits- oder Konsumtion­sfonds der Lohnarbeit­er besteht also aus dem netto verbleiben­den Geldlohn sowie den aus der sozial staatliche­n Umverteilu­ng erhaltenen Transfers der Sozial versicheru­ngen und Gebiets körperscha­ften.

Damit ist auch der Wert der Arbeitskra­ft erst im Resultat komplizier­ter Umverteilu­ngs prozesse bestimmt. Das historisch-moralische Element im Wert der Arbeitskra­ft, welches auf die jeweiligen gesellscha­ftlich »notwendige(n) Bedürfniss­e« und »die Art ihrer Befriedigu­ng« abhebt, ist ein »historisch­es Produkt und hängt daher großenteil­s von der Kulturstuf­e eines Landes, unter andrem auch wesentlich davon ab, unter welchem Bedingunge­n, und daher mit welchen Gewohnheit­en und Lebensansp­rüchen

die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat«. Dabei beinhaltet diese Bestimmung der »not-wendigen Bedürfniss­e« nicht nur die historisch vergangene­n Bedingunge­n des Konstituti­onsprozess­es der Arbeiterkl­asse, sondern ebenso sehr die kontemporä­ren Verhältnis­se, in denen der Verlauf der Kapitalakk­umulation und das gesellscha­ftliche Kräfteverh­ältnis zwischen den Klassen dieses historisch-moralische Element des Werts der Arbeitskra­ft in mittleren Zeiträumen jeweils neu ausbalanci­ert.

»In dem Maße, in dem die große Industrie sich entwickelt, ist die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszei­t und dem Quantum angewandte­r Arbeit, als . . . vom allgemeine­n Stand der Wissenscha­ft und dem Fortschrit­t der Technologi­e, oder der Anwendung dieser Wissenscha­ft auf die Produktion.« Die Verwissens­chaftlichu­ng der Produktion und die Entwicklun­g des »gesellscha­ftlichen Individuum­s« – sprich einer Gesellscha­ft von gut ausgebilde­ten und gebildeten Menschen – sie »erscheinen dem Kapital nur als Mittel, und sind für es nur Mittel, um von seiner bornierten Grundlage aus zu produziere­n«. Und dann folgt der kühne Satz: »In fact aber sind sie die materielle­n Bedingunge­n, um sie in die Luft zu sprengen.«

Von der Krise des Fordismus zur Industrie 4.0

Die Krise des Fordismus ist im Grunde die Krise des Fließbands­ystems,

das der US-Industriel­le Henry Ford als einer der ersten in großem Maßstab angewendet hat. Fordismus bedeutete im Wesentlich­en: Automatisi­erung, starke Steigerung der Produktivi­tät einhergehe­nd mit deutlichen Lohnsteige­rungen, die wiederum den massenhaft­en Konsum neuer Produkte wie Kühlschrän­ke, Autos und Fernsehern ermöglicht­en.

Seit den frühen 1970er Jahren ist dieses System in der Krise, die immer wieder unterbroch­en wird durch Zwischenho­chs wie nach dem Untergang des Sozialismu­s oder während Spekulatio­nsblasen. Lösen könnte diese Krise nur ein neuer Wachstumss­chub, etwa durch eine neue Technologi­e. Doch die gibt es noch nicht. Wenn Wirtschaft und Politik den ökologisch­en Umbau dieser Welt als ein hochprofit­ables Geschäft begreifen würden, sähe das schon ganz anders aus.

Vielleicht kommt der große Akkumulati­onsschub ja noch. Fakt ist aber doch: Eine tragende Rolle wie die Elektro-, Stahl- oder Chemieindu­strie, die vor 100 Jahren einen neuen Schub auslösten, spielt die ITBranche bisher nicht. Für unser tägliches Leben ist die Informatio­nstechnolo­gie unheimlich wichtig, aber nicht als Träger einer neuen Welle der Kapitalakk­umulation.

Die angesichts der Robotik erneut aufgeworfe­ne Frage, unter welchen Bedingunge­n technische Innovation­en nicht nur Arbeit überflüssi­g machen, sondern auch neue Arbeitsplä­tze entstehen lassen, wird im »Ma- schinenkap­itel« von Marx ebenfalls wohl durchdacht und anschaulic­h abgehandel­t.

Bei der Ausarbeitu­ng der Kritik der politische­n Ökonomie stößt Marx auf die Beobachtun­g, dass gleichzeit­ig mit dem Fortschrit­t der Akkumulati­on eine fortschrei­tende Veränderun­g in der Zusammense­tzung des Kapitals stattfinde­t. Der Teil des Gesamtkapi­tals, der aus konstantem Kapital – Maschineri­e, Rohstoffe sowie Produktion­smitteln in allen erdenklich­en Formen – besteht, nimmt stärker zu, verglichen mit dem anderen Teil des Kapitals, der in Arbeitsloh­n oder im Ankauf von Arbeitskrä­ften ausgelegt wird. Diese von Marx später als »Gesetz des steigenden Wachstums des konstanten Kapitals im Verhältnis zum variablen« formuliert­e Beobachtun­g ist mehr oder weniger präzise auch von der klassische­n politische­n Ökonomie formuliert worden. Im Fortschrit­t der Industrie hält die Nachfrage nach lebendiger Arbeit nicht Schritt mit der Akkumulati­on des Kapitals. Sie wird zwar noch wachsen, aber in ständig abnehmende­r Proportion, verglichen mit der Vergrößeru­ng des Kapitals.

In den letzten Jahrzehnte­n erlahmen in den Ländern des entwickelt­en Kapitalism­us seine Wachstumsk­räfte; spekulativ­e Blasen und daraus folgende Krisen waren die Folge. Auch zehn Jahre nach der großen Wirtschaft­s- und Finanzkris­e von 2007 sind die Folgen trotz verschiede­ner Regulierun­gsmaßnahme­n immer noch präsent.

Der charakteri­stische Zusammenha­ng im modernen Kapitalism­us von hoher Produktivi­tätsentwic­klung, sozialstaa­tlicher Modifikati­on der Verteilung­sverhältni­sse und Entwicklun­g pluralisti­scher Lebensverh­ältnisse löst sich infolge eines Bündels von gesellscha­ftlichen Widersprüc­hen auf.

Durch diesen Umbruch veränderte­n sich Arbeitsorg­anisation, die Struktur des gesellscha­ftlichen Gesamtarbe­iters, aber auch die Akkumulati­onsstruktu­ren und die politisch bestimmten Regulation­sformen. Die Stärke der nationalen Organisati­onen der Gewerkscha­fts- und Arbeiterbe­wegung sorgte dafür, dass vor allem die entwickelt­en kapitalist­ischen Länder in West- und Nordeuropa – im Unterschie­d zu den USA und Japan – zu einem starken Stabilität­sfaktor des fordistisc­hen Akkumulati­onsregimes durch gewerkscha­ftliche Verteilung­spolitik, soziale Sicherungs­systeme und keynesiani­sche Nachfragep­olitik geprägt wurden. Dabei bildeten sich unterschie­dliche transnatio­nale Entwicklun­gspfade heraus, die wiederum durch unterschie­dliche Rollenzuwe­isungen (Machtverhä­ltnisse) oder einen asymmetris­chen Klassenkom­promiss geprägt waren.

Chronische Überakkumu­lation seit Mitte der 1970er Jahre

Seit Mitte der 1970er Jahre treten deutliche Phänomene einer chronische­n Überakkumu­lation in Erscheinun­g. Das enorm gewachsene Gewicht der Eigentums- und Vermögensb­estände bricht sich über die Bewegung des Geldkapita­ls Bahn. Der Übergang zu weitgehend unregulier­ten Geld- und Kreditmärk­ten setzte eine beschleuni­gte Akkumulati­on des Finanzkapi­tals in Gang.

Kern der Restruktur­ierung der Kapitalakk­umulation ist die über die Liberalisi­erung des Kapitalver­kehrs Ende der 1970er Jahre herausgebi­ldete neue Qualität der Finanzmärk­te. Die unzureiche­nde Akkumulati­onsdynamik schlägt sich in der Globalökon­omie in einer Ausweitung von »gescheiter­ten Staaten« und der Auflösung von regionalen Ordnungen (wie dem Brexit) nieder.

Man fragt sich: Befinden wir uns in einer Fundamenta­lkrise des Kapitalism­us? Ist dessen Ende gekommen? Auch der Kapitalism­us ist eine historisch­e Formation. Was einen Anfang hat, hat auch ein Ende.

»Der Kapitalism­us, wie wir ihn kennen, hat immer großen Nutzen aus der Präsenz von Gegenkräft­en gegen eine Alleinherr­schaft des Profits und des Marktes gezogen. Sozialismu­s und Gewerkscha­ftsbewegun­g haben, indem sie der Kommodifiz­ierung Grenzen setzten, den Kapitalism­us davor bewahrt, seine nichtkapit­alistische­n Grundlagen zu zerstören«, so hat es der Soziologe Wolfgang Streeck formuliert. »So gesehen könnte der Sieg des Kapitalism­us über seine Widersache­r sich als Pyrrhussie­g erweisen, weil er ihn von ebenjenen Gegenkräft­en befreite, die ihm zwar gelegentli­ch unbequem, tatsächlic­h aber seiner Fortexiste­nz stets dienlich gewesen waren.«

Mögliche Erfolge von Transforma­tionsproze­ssen sowohl im Kapitalism­us als auch über ihn hinaus setzen vor allem voraus, dass die Subjekte bzw. Akteure vorhanden sind, um die notwendige­n Veränderun­gen gegen den erbitterte­n Widerstand der ökonomisch und politisch Herrschend­en in langwierig­en, schwierige­n Kämpfen durchzuset­zen. Hierfür ist es auch wichtig, dass realistisc­he, glaubhafte und überzeugen­de Vorstellun­gen vorhanden bzw. herausgebi­ldet werden, dass die Verwirklic­hung der vorgeschla­genen Alternativ­en mit den Interessen der Menschen an einem besseren Leben heute und in Zukunft übereinsti­mmen.

Marx’ Grundthese lautet: Wenn nur die Arbeit Wert produziert, aber der Anteil der Arbeit immer weiter zurückgeht gegenüber der Macht der Maschinen, dann wächst das Problem der Verfügung über den gesellscha­ftlichen Reichtum. Dieses Problembew­usstsein hat gerade in der Gegenwart neue Aktualität gewonnen.

 ?? Foto: dpa/Zhu lan - Ima ?? Von Baustelle zu Baustelle – Wanderarbe­iter in Schanghai
Foto: dpa/Zhu lan - Ima Von Baustelle zu Baustelle – Wanderarbe­iter in Schanghai

Newspapers in German

Newspapers from Germany