Subbotnik und Soljanka
Vor 70 Jahren wurde die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft gegründet.
Zu den merkwürdigen Erscheinungen der Gegenwart gehört, dass das Bild vom sogenannten Russen im Osten Deutschlands ein wesentlich besseres ist als im Westen. Denn war nicht der Osten russische Besatzungszone, litten nicht die Menschen dort unter der Präsenz von Hunderttausenden Angehörigen der Sowjetischen Armee, deren Sturmartillerie immer mal ungefragt den Vorgarten umgegraben hatte? Zuckelten sie mit ihren Trabis nicht fluchend auf holprigen Straßen hinter endlosen russischen Militärkolonnen her, die zu überholen streng verboten war?
Man kann darüber streiten, ob die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF), deren Vorläuferin im Juni 1947 (als »Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion«) gegründet wurde, daran Anteil hatte oder ob sich dieses Bild trotz dieser Gesellschaft ausgeprägt hat. Die DSF mit ihren rund sechs Millionen Mitgliedern entwickelte sich nach 1949 zu dem, als was sie jeder DDR-Bürger kannte: zur nach dem FDGB größten Massenorganisation der DDR.
Die DSF war Mitglied der Liga der Völker freundschaft, und es darf getrost bezweifelt werden, dass der Mehrheit der Mitglieder dieser Umstand bekannt war oder dass sie sich auch nur dafür interessiert hätten. Mitglied der DSF zu sein, war eine Gepflogenheit, für die meisten eine nichtssagende Geste und kaum Gegenstand des Nachdenkens. Aufmerksamkeit erregte allenfalls die betonte Ablehnung einer solchen Mitgliedschaft. Es war Sache der DSF, Freund schafts veranstaltungen und Begegnungen vorzubereiten. Wenn es zu persönlichen Kontakten dabei kam, die darüber hinaus auch noch längerfristig gepflegt wurden, dann war das nicht direkt verboten, aber auch nicht direkt angestrebt.
Das Studium der Kultur der Sowjetunion war insofern für jeden DDRBürger verbindlich, als er zumindest Grundbegriffe der russischen Sprache vermittelt bekam. Russisch war Pflichtfach ab der 5. Klasse, Millionen Menschen wurden damit behelligt. Es wäre nicht übertrieben, darauf zu verweisen, dass die Mehrheit die Sprache nicht gern lernte. Mit antirussischen Vorbehalten hatte dies vielleicht weniger zu tun als mit der Tatsache, dass die wenigsten mit diesen Kenntnissen später etwas anfangen konnten. Für die beachtliche Zahl an Austauschstudenten traf das natürlich nicht zu. Inder höheren Ebene derNVA-Führungw ar Russisch Kommandosprache, hier kam man um vertiefte Kenntnisse ebenfalls nicht herum. Auch die Bewaffnung war sowjetisch, »die Waffen des Sieges«, von der legendären Kalaschnikow bis zur Mig 29 waren »made in USSR« und ihre Bedienung setzte Sprachkenntnisse voraus. Immerhin ist der heutige Ostdeutsche in Russland nicht völlig hilflos – er kennt die kyrillischen Buchstaben und weiß, ob er sich inder Pionerskaja-, derPuschkinska ja-oder derKom so molska jaStation der MoskauerMetro befindet. Was die sonstige Situation inder DDR betraf, lag das Dresdner Kabarett »Herkuleskeule« mit seinem Sketch wohl richtig, in dem ein Mann damit prahlte, sein Brigadekollektiv stehe mit einer sowjetischen Freundschaftsbrigade in regem Briefwechsel. Ein Gesprächspartner will nun wissen, was die sowjetischen Freunde denn so schreiben würden. »Diss weeßsch ne.« »Warum denn nicht?« »Weil – diss is alles uff Russsch.«
Von einer »verordneten Freundschaft« zu sprechen, wäre nicht falsch, aber ist jede Verordnung falsch? Auch im Osten Deutschlands herrschte nach der Befreiung dieser Zwiespalt: Zum einen die Wut über die harten Maßnahmen der Besatzungsmacht, von nicht wenigen als Unrecht empfunden. Zum anderen das wach gehaltene Bewusstsein davon, wie verbrecherisch und mörderisch die Deutschen zuvor in der Sowjetunion gewütet hatten. Antirussische Affekte konnten in der DDR nicht offen ausbrechen, die hatten es im Weststaat leichter: Hier wurde problemlos vom Russenhass der SA auf den Russenhass der USA umgeschaltet. Sofern sich in der BRD bezogen auf die 27 Millionen sowjetischen Weltkriegsopfer überhaupt so etwas wie ein schlechtes Gewissen herausgebildet hatte, konnte es sich im Hass des Henkers auf den Delinquenten beruhigen. Die Gründung einer DSF fand auch in der Bundesrepublik statt, doch wurde sie in den meisten Bundesländern verboten.
Es herrscht heute die Konvention, die DDR auf ihre negativen Seiten zu reduzieren, davon kann die »Freundschaft zur Sowjetunion« natürlich keine Ausnahme bilden. Gab es nicht dennoch positive Aspekte? Die traditionelle Ignoranz der deutschen Außenpolitik gegenüber den Bevölkerungen des Ostens und des Südostens wurde nach 1949 zumindest von der DDR unterbrochen. Es herrschte 40 Jahre lang ein intensiver Austausch mit den Staaten des Ostens, den nicht alle Ostdeutschen als Bereicherung empfanden, nicht wenige aber doch. Diese widersprüchliche Entwicklung wurde 1990 unterbrochen.
Außerdem stand diese »Freundschaft« nicht so exklusiv in der Geschichte herum, wie es heute mitunter den Anschein haben soll. Das russisch-preußische Bündnis im Kampf gegen Napoleon war ein Vorläufer, genauso wie der Umstand, dass die russische Regierung, welche 1917 von Lenin, Trotzki und Stalin gebildet wurde, nicht nur der beste Partner des damaligen Deutschlands war, sondern jahrelang auch sein einziger.
Während die Bundesrepublik eine hochentwickelte, vom Krieg unbehelligte und reiche Besatzungsmacht ihr eigen nennen konnte, war es in Ostdeutschland eine arme, größtenteils zerstörte und – von der Militärtechnik abgesehen – rückständige Besatzungsmacht. Als die Demontage dessen beendet war, was der Weltkrieg in Ostdeutschland übriggelassen hatte, konnte die sowjetische Führung mit verbilligtem Erdöl und Kerosin helfen und den kleinen deutschen Staat sozusagen auch noch zur fünften »Macht im Weltall« erheben. Bei den Handelspartnern der DDR stand die Sowjetunion immer an erster Stelle, die Bundesrepublik immer an zweiter. Vom »großen Bruder« wurden solche Elemente wie die Brigadestruktur der Industrie, der sozialistische Wettbewerb, die Auszeichnungsrituale übernommen und auf die DDR-Verhältnisse zugeschnitten. Praktischerweise gab es 16 Sowjetrepubliken, für jeden der 16 DDR-Bezirke stand also eine Patenrepublik bereit.
In der Schule wurden die Kinder mit Gorkis »Mutter« und Ostrowskis »Wie der Stahl gehärtet wurde« konfrontiert, beide Werke werden weniger auf das Interesse der Kinder gestoßen sein als Scholochows »Menschenschicksal«, Aitmatows »Djamila« oder – für die Kleinsten – »Timur
und sein Trupp«. Im Musikunterricht waren die Kinderoper »Peter und der Wolf« (Prokowjew), in höheren Klassen die Leningrader Sinfonie von Schostakowitsch Gegenstand der schulischen Betrachtung.
In Kino und Fernsehen fehlten natürlich auch sowjetische Produktionen nicht, und als es ein zweites DDRFernsehprogramm gab, strahlte es ein- oder zweimal in der Woche für »Freunde der russischen Sprache« Sowjetfilme im Originalton (mit deutschen Untertiteln) aus, natürlich in erster Linie für die Angehörigen der »Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte«, wie die in der DDR stationierten Truppen bezeichnet wurden.
Wo sowjetische Einheiten lagen – und das waren ca. 1000 Standorte –, gab es mitunter die »Russenmagazine«, Verkaufsstellen, wo auch die deutschen Anwohner fremdländische Erzeugnisse erwerben konnten. Für seltsam eingelegtes Gemüse, grusinischen Tee, Moskauer Eis, sowjetisches »Kanfekt« und Fischbüchsen fand der DDR-Bürger möglicherweise Verwendung, für »Machorka«-Zigaretten, Hirse, Sonnenblumenkerne und Buchweizengrütze wohl eher nicht. Aber natürlich konnte er – dank seiner Russischlehrerin – seinem Westbesuch erklären, dass das »Magazin« korrekt »Magasin« ausgesprochen wird.
Freundschaftszüge trugen Hunderttausende DDR-Bürger in die Sowjetunion, vor allem jüngere Menschen, Reisebüro-Fahrten gab es zusätzlich, dergleichen galt als Lebenshöhepunkt. Die Wirkung war zwiespältig: Die sowjetische Gastfreundschaft wurde dankbar anerkannt, aber die Wahrnehmung der Lebensumstände im »fernen Osten«, die selbst aus der Perspektive der DDRBürger nicht beneidenswert waren, verfehlte ihre Wirkung ebenfalls nicht.
In der Summe all dessen liegt sicher die einfache Antwort auf das eingangs geschilderte Paradox: Den DDR-Bürgern sind Menschen begegnet – auch wenn sie im Großen und Ganzen auf Abstand gehalten wurden. Während in der BRD bis heute ein Zerrbild von »dem Russen« dominiert. Sprachlich fand im Osten ein Austausch statt, wenn es auch ein begrenzter war (die »Datsche«, der »Subbotnik« oder die »Soljanka« sind bis heute lebendig). Aber natürlich drangen die pädagogischen Programme der DSF längst nicht so durch, wie es geplant war. Vor allem die Jugend der DDR orientierte sich eher an westlichen Vorbildern. Mitte der 80er Jahre ermittelte das Leipziger Institut für Jugendforschung, dass in der ostdeutschen Jugendsprache positive Vorstellungen vorwiegend mit englischen Begriffen besetzt waren, während die russische Sprache eher in abwertendem Sinn verwendet wurde (»Das gibt’s in keinem Russenfilm«, »Mach dich nicht zur Olga«).
»Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen.« Dieses Motto der DSF konnte leicht unterminiert werden, indem das »siegen« sächsisch ausgesprochen wurde, womit es zum »siechen« wurde. In der Endphase der DDR stieß die DSF dann noch einmal auf Zuspruch, denn Gorbatschows Perestroika-Politik war so populär, dass deren Anhänger demonstrativ der DSF beitraten. Seinen Höhepunkt fand dieser Umschwung im Verbot des »Sputnik«, einer Zeitschrift, die eine übersetzte Auswahl von Texten aus der sowjetischen Glasnost-Welt anbot. Das bewahrte die Freundschaftsgesellschaft freilich nicht davor, in den Strudel der sogenannten Wende hineingerissen zu werden. Am 16. November 1989 erklärte Präsident Erich Mückenberger seinen Rücktritt. Auf einem außerordentlichen Kongress in Schwerin am 27. Januar 1990 bekannte man sich noch einmal zur weiteren Existenz der Gesellschaft. Vorsitzender war von da an der Pfarrer Cyrill Pech aus Berlin-Marzahn. Die von der Gesellschaft genutzten »Häuser der Freundschaft« wurden an Länder und Kommunen zurückgegeben, die Zahl der Mitglieder sank bis November 1991 auf 20 000. Nach der deutschen Wiedervereinigung arbeitete die DSF als eingetragener Verein auf föderativer Basis in den ostdeutschen Landesverbänden zunächst weiter.
Das Kappen der vielfältigen Verbindungen zu den osteuropäischen Ländern sei ein »Abschied ohne Tränen«, meinte seinerzeit Lothar de Maizière (CDU) – dies war eine unnötige Kränkung der Menschen im Osten und einer der schlimmsten Sätze, die der letzte DDR-Ministerpräsident in seiner politischen Laufbahn von sich gegeben hatte. Denn er besaß nicht das Recht, in einer so persönlichen Sache für jeden DDR-Bürger zu sprechen. Tatsächlich waren viele traurig, fühlten sich viele zu dieser Zeit noch von den Russen regelrecht im Stich gelassen.
Naturgemäß konnte die DSF das Ende der Sowjetunion nicht überleben. Ein außerordentlicher Verbandstag beschloss am 28. März 1992 die Namensänderung in »Brücken nach dem Osten« – Föderation von Gesellschaften für Völkerverständigung e. V. Diese wurde am 31. Dezember 1992 aufgelöst. Und damit war die Geschichte der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft vorbei.
Litten die Menschen in der DDR nicht unter der Präsenz von Hunderttausenden Angehörigen der Sowjetischen Armee, deren Sturmartillerie immer mal ungefragt den Vorgarten umgegraben hatte? Zuckelten sie mit ihren Trabis nicht fluchend auf holprigen Straßen hinter endlosen russischen Militärkolonnen her, die zu überholen streng verboten war?