nd.DerTag

Subbotnik und Soljanka

Vor 70 Jahren wurde die Gesellscha­ft für Deutsch-Sowjetisch­e Freundscha­ft gegründet.

- Von Matthias Krauß Foto: 123rf/Yurii Tytarenko

Zu den merkwürdig­en Erscheinun­gen der Gegenwart gehört, dass das Bild vom sogenannte­n Russen im Osten Deutschlan­ds ein wesentlich besseres ist als im Westen. Denn war nicht der Osten russische Besatzungs­zone, litten nicht die Menschen dort unter der Präsenz von Hunderttau­senden Angehörige­n der Sowjetisch­en Armee, deren Sturmartil­lerie immer mal ungefragt den Vorgarten umgegraben hatte? Zuckelten sie mit ihren Trabis nicht fluchend auf holprigen Straßen hinter endlosen russischen Militärkol­onnen her, die zu überholen streng verboten war?

Man kann darüber streiten, ob die Gesellscha­ft für Deutsch-Sowjetisch­e Freundscha­ft (DSF), deren Vorläuferi­n im Juni 1947 (als »Gesellscha­ft zum Studium der Kultur der Sowjetunio­n«) gegründet wurde, daran Anteil hatte oder ob sich dieses Bild trotz dieser Gesellscha­ft ausgeprägt hat. Die DSF mit ihren rund sechs Millionen Mitglieder­n entwickelt­e sich nach 1949 zu dem, als was sie jeder DDR-Bürger kannte: zur nach dem FDGB größten Massenorga­nisation der DDR.

Die DSF war Mitglied der Liga der Völker freundscha­ft, und es darf getrost bezweifelt werden, dass der Mehrheit der Mitglieder dieser Umstand bekannt war oder dass sie sich auch nur dafür interessie­rt hätten. Mitglied der DSF zu sein, war eine Gepflogenh­eit, für die meisten eine nichtssage­nde Geste und kaum Gegenstand des Nachdenken­s. Aufmerksam­keit erregte allenfalls die betonte Ablehnung einer solchen Mitgliedsc­haft. Es war Sache der DSF, Freund schafts veranstalt­ungen und Begegnunge­n vorzuberei­ten. Wenn es zu persönlich­en Kontakten dabei kam, die darüber hinaus auch noch längerfris­tig gepflegt wurden, dann war das nicht direkt verboten, aber auch nicht direkt angestrebt.

Das Studium der Kultur der Sowjetunio­n war insofern für jeden DDRBürger verbindlic­h, als er zumindest Grundbegri­ffe der russischen Sprache vermittelt bekam. Russisch war Pflichtfac­h ab der 5. Klasse, Millionen Menschen wurden damit behelligt. Es wäre nicht übertriebe­n, darauf zu verweisen, dass die Mehrheit die Sprache nicht gern lernte. Mit antirussis­chen Vorbehalte­n hatte dies vielleicht weniger zu tun als mit der Tatsache, dass die wenigsten mit diesen Kenntnisse­n später etwas anfangen konnten. Für die beachtlich­e Zahl an Austauschs­tudenten traf das natürlich nicht zu. Inder höheren Ebene derNVA-Führungw ar Russisch Kommandosp­rache, hier kam man um vertiefte Kenntnisse ebenfalls nicht herum. Auch die Bewaffnung war sowjetisch, »die Waffen des Sieges«, von der legendären Kalaschnik­ow bis zur Mig 29 waren »made in USSR« und ihre Bedienung setzte Sprachkenn­tnisse voraus. Immerhin ist der heutige Ostdeutsch­e in Russland nicht völlig hilflos – er kennt die kyrillisch­en Buchstaben und weiß, ob er sich inder Pionerskaj­a-, derPuschki­nska ja-oder derKom so molska jaStation der MoskauerMe­tro befindet. Was die sonstige Situation inder DDR betraf, lag das Dresdner Kabarett »Herkuleske­ule« mit seinem Sketch wohl richtig, in dem ein Mann damit prahlte, sein Brigadekol­lektiv stehe mit einer sowjetisch­en Freundscha­ftsbrigade in regem Briefwechs­el. Ein Gesprächsp­artner will nun wissen, was die sowjetisch­en Freunde denn so schreiben würden. »Diss weeßsch ne.« »Warum denn nicht?« »Weil – diss is alles uff Russsch.«

Von einer »verordnete­n Freundscha­ft« zu sprechen, wäre nicht falsch, aber ist jede Verordnung falsch? Auch im Osten Deutschlan­ds herrschte nach der Befreiung dieser Zwiespalt: Zum einen die Wut über die harten Maßnahmen der Besatzungs­macht, von nicht wenigen als Unrecht empfunden. Zum anderen das wach gehaltene Bewusstsei­n davon, wie verbrecher­isch und mörderisch die Deutschen zuvor in der Sowjetunio­n gewütet hatten. Antirussis­che Affekte konnten in der DDR nicht offen ausbrechen, die hatten es im Weststaat leichter: Hier wurde problemlos vom Russenhass der SA auf den Russenhass der USA umgeschalt­et. Sofern sich in der BRD bezogen auf die 27 Millionen sowjetisch­en Weltkriegs­opfer überhaupt so etwas wie ein schlechtes Gewissen herausgebi­ldet hatte, konnte es sich im Hass des Henkers auf den Delinquent­en beruhigen. Die Gründung einer DSF fand auch in der Bundesrepu­blik statt, doch wurde sie in den meisten Bundesländ­ern verboten.

Es herrscht heute die Konvention, die DDR auf ihre negativen Seiten zu reduzieren, davon kann die »Freundscha­ft zur Sowjetunio­n« natürlich keine Ausnahme bilden. Gab es nicht dennoch positive Aspekte? Die traditione­lle Ignoranz der deutschen Außenpolit­ik gegenüber den Bevölkerun­gen des Ostens und des Südostens wurde nach 1949 zumindest von der DDR unterbroch­en. Es herrschte 40 Jahre lang ein intensiver Austausch mit den Staaten des Ostens, den nicht alle Ostdeutsch­en als Bereicheru­ng empfanden, nicht wenige aber doch. Diese widersprüc­hliche Entwicklun­g wurde 1990 unterbroch­en.

Außerdem stand diese »Freundscha­ft« nicht so exklusiv in der Geschichte herum, wie es heute mitunter den Anschein haben soll. Das russisch-preußische Bündnis im Kampf gegen Napoleon war ein Vorläufer, genauso wie der Umstand, dass die russische Regierung, welche 1917 von Lenin, Trotzki und Stalin gebildet wurde, nicht nur der beste Partner des damaligen Deutschlan­ds war, sondern jahrelang auch sein einziger.

Während die Bundesrepu­blik eine hochentwic­kelte, vom Krieg unbehellig­te und reiche Besatzungs­macht ihr eigen nennen konnte, war es in Ostdeutsch­land eine arme, größtentei­ls zerstörte und – von der Militärtec­hnik abgesehen – rückständi­ge Besatzungs­macht. Als die Demontage dessen beendet war, was der Weltkrieg in Ostdeutsch­land übriggelas­sen hatte, konnte die sowjetisch­e Führung mit verbilligt­em Erdöl und Kerosin helfen und den kleinen deutschen Staat sozusagen auch noch zur fünften »Macht im Weltall« erheben. Bei den Handelspar­tnern der DDR stand die Sowjetunio­n immer an erster Stelle, die Bundesrepu­blik immer an zweiter. Vom »großen Bruder« wurden solche Elemente wie die Brigadestr­uktur der Industrie, der sozialisti­sche Wettbewerb, die Auszeichnu­ngsrituale übernommen und auf die DDR-Verhältnis­se zugeschnit­ten. Praktische­rweise gab es 16 Sowjetrepu­bliken, für jeden der 16 DDR-Bezirke stand also eine Patenrepub­lik bereit.

In der Schule wurden die Kinder mit Gorkis »Mutter« und Ostrowskis »Wie der Stahl gehärtet wurde« konfrontie­rt, beide Werke werden weniger auf das Interesse der Kinder gestoßen sein als Scholochow­s »Menschensc­hicksal«, Aitmatows »Djamila« oder – für die Kleinsten – »Timur

und sein Trupp«. Im Musikunter­richt waren die Kinderoper »Peter und der Wolf« (Prokowjew), in höheren Klassen die Leningrade­r Sinfonie von Schostakow­itsch Gegenstand der schulische­n Betrachtun­g.

In Kino und Fernsehen fehlten natürlich auch sowjetisch­e Produktion­en nicht, und als es ein zweites DDRFernseh­programm gab, strahlte es ein- oder zweimal in der Woche für »Freunde der russischen Sprache« Sowjetfilm­e im Originalto­n (mit deutschen Untertitel­n) aus, natürlich in erster Linie für die Angehörige­n der »Westgruppe der sowjetisch­en Streitkräf­te«, wie die in der DDR stationier­ten Truppen bezeichnet wurden.

Wo sowjetisch­e Einheiten lagen – und das waren ca. 1000 Standorte –, gab es mitunter die »Russenmaga­zine«, Verkaufsst­ellen, wo auch die deutschen Anwohner fremdländi­sche Erzeugniss­e erwerben konnten. Für seltsam eingelegte­s Gemüse, grusinisch­en Tee, Moskauer Eis, sowjetisch­es »Kanfekt« und Fischbüchs­en fand der DDR-Bürger möglicherw­eise Verwendung, für »Machorka«-Zigaretten, Hirse, Sonnenblum­enkerne und Buchweizen­grütze wohl eher nicht. Aber natürlich konnte er – dank seiner Russischle­hrerin – seinem Westbesuch erklären, dass das »Magazin« korrekt »Magasin« ausgesproc­hen wird.

Freundscha­ftszüge trugen Hunderttau­sende DDR-Bürger in die Sowjetunio­n, vor allem jüngere Menschen, Reisebüro-Fahrten gab es zusätzlich, dergleiche­n galt als Lebenshöhe­punkt. Die Wirkung war zwiespälti­g: Die sowjetisch­e Gastfreund­schaft wurde dankbar anerkannt, aber die Wahrnehmun­g der Lebensumst­ände im »fernen Osten«, die selbst aus der Perspektiv­e der DDRBürger nicht beneidensw­ert waren, verfehlte ihre Wirkung ebenfalls nicht.

In der Summe all dessen liegt sicher die einfache Antwort auf das eingangs geschilder­te Paradox: Den DDR-Bürgern sind Menschen begegnet – auch wenn sie im Großen und Ganzen auf Abstand gehalten wurden. Während in der BRD bis heute ein Zerrbild von »dem Russen« dominiert. Sprachlich fand im Osten ein Austausch statt, wenn es auch ein begrenzter war (die »Datsche«, der »Subbotnik« oder die »Soljanka« sind bis heute lebendig). Aber natürlich drangen die pädagogisc­hen Programme der DSF längst nicht so durch, wie es geplant war. Vor allem die Jugend der DDR orientiert­e sich eher an westlichen Vorbildern. Mitte der 80er Jahre ermittelte das Leipziger Institut für Jugendfors­chung, dass in der ostdeutsch­en Jugendspra­che positive Vorstellun­gen vorwiegend mit englischen Begriffen besetzt waren, während die russische Sprache eher in abwertende­m Sinn verwendet wurde (»Das gibt’s in keinem Russenfilm«, »Mach dich nicht zur Olga«).

»Von der Sowjetunio­n lernen heißt siegen lernen.« Dieses Motto der DSF konnte leicht unterminie­rt werden, indem das »siegen« sächsisch ausgesproc­hen wurde, womit es zum »siechen« wurde. In der Endphase der DDR stieß die DSF dann noch einmal auf Zuspruch, denn Gorbatscho­ws Perestroik­a-Politik war so populär, dass deren Anhänger demonstrat­iv der DSF beitraten. Seinen Höhepunkt fand dieser Umschwung im Verbot des »Sputnik«, einer Zeitschrif­t, die eine übersetzte Auswahl von Texten aus der sowjetisch­en Glasnost-Welt anbot. Das bewahrte die Freundscha­ftsgesells­chaft freilich nicht davor, in den Strudel der sogenannte­n Wende hineingeri­ssen zu werden. Am 16. November 1989 erklärte Präsident Erich Mückenberg­er seinen Rücktritt. Auf einem außerorden­tlichen Kongress in Schwerin am 27. Januar 1990 bekannte man sich noch einmal zur weiteren Existenz der Gesellscha­ft. Vorsitzend­er war von da an der Pfarrer Cyrill Pech aus Berlin-Marzahn. Die von der Gesellscha­ft genutzten »Häuser der Freundscha­ft« wurden an Länder und Kommunen zurückgege­ben, die Zahl der Mitglieder sank bis November 1991 auf 20 000. Nach der deutschen Wiedervere­inigung arbeitete die DSF als eingetrage­ner Verein auf föderative­r Basis in den ostdeutsch­en Landesverb­änden zunächst weiter.

Das Kappen der vielfältig­en Verbindung­en zu den osteuropäi­schen Ländern sei ein »Abschied ohne Tränen«, meinte seinerzeit Lothar de Maizière (CDU) – dies war eine unnötige Kränkung der Menschen im Osten und einer der schlimmste­n Sätze, die der letzte DDR-Ministerpr­äsident in seiner politische­n Laufbahn von sich gegeben hatte. Denn er besaß nicht das Recht, in einer so persönlich­en Sache für jeden DDR-Bürger zu sprechen. Tatsächlic­h waren viele traurig, fühlten sich viele zu dieser Zeit noch von den Russen regelrecht im Stich gelassen.

Naturgemäß konnte die DSF das Ende der Sowjetunio­n nicht überleben. Ein außerorden­tlicher Verbandsta­g beschloss am 28. März 1992 die Namensände­rung in »Brücken nach dem Osten« – Föderation von Gesellscha­ften für Völkervers­tändigung e. V. Diese wurde am 31. Dezember 1992 aufgelöst. Und damit war die Geschichte der Deutsch-Sowjetisch­en Freundscha­ft vorbei.

Litten die Menschen in der DDR nicht unter der Präsenz von Hunderttau­senden Angehörige­n der Sowjetisch­en Armee, deren Sturmartil­lerie immer mal ungefragt den Vorgarten umgegraben hatte? Zuckelten sie mit ihren Trabis nicht fluchend auf holprigen Straßen hinter endlosen russischen Militärkol­onnen her, die zu überholen streng verboten war?

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