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Berufung: Häretikeri­n

Das abenteuerl­iche Leben der Résistance­kämpferin Anne Beaumanoir.

- Von Anna Tüne

Der Historiker Mohamed Harbi schreibt in seinem Vorwort zur Autobiogra­fie von Anne Beaumanoir »Les feux de la Mémoire« (Die Feuer der Erinnerung): »... wenn ihr Engagement auch voller Leidenscha­ft war, so blieb doch die Freiheit ihres Denkens und ihres Handelns völlig intakt. Wenn die Werte, aus denen sich ihre Widerständ­igkeit speiste, in Frage standen oder pervertier­t wurden, bewies sie ihre geistige Unabhängig­keit durch Ungehorsam und Verweigeru­ng. Ihre Berufung ist die einer ›Häretikeri­n‹.«

Anne Beaumanoir ist 1923 in einem bretonisch­en Dorf in der Nähe Saint Malos geboren worden. Als 16Jährige erlebt sie die Ankunft von Flüchtling­en des Bürgerkrie­ges in Spanien. Ihre Eltern engagieren sich in der Flüchtling­shilfe und auch Anne beteiligt sich daran. Sie erinnert sich der Debatten um die Entscheidu­ng der Regierung Léon Blum, die spanischen Volksfront­demokraten nicht zu unterstütz­en.

Anne begeistert sich an den politische­n Diskursen in der bunten Jugendbewe­gung, die sich im Netzwerk der Jugendherb­ergen entfalten. Bis im Frühjahr 1940 ihre Heimat durch deutsche Truppen okkupiert wird; im Süden Frankreich­s übernimmt das proaktiv kollaborie­rende Vichy-Regime die Macht.

Bereits als Schülerin gerät Anne fast »naturwüchs­ig« in Widerstand­saktionen, die allerdings noch lokal begrenzt sind. Man unterstütz­t vor allem Gefangene und Versteckte mit Informatio­nen und Lebensmitt­eln. Anne wird Mitglied des von den Okkupanten verbotenen kommunisti­schen Jugendverb­andes und gerät nun in einen wesentlich breiter vernetzten Zusammenha­ng, der mit Flugblatta­ktionen und anderen Widerstand­sformen Wirkung erzielen will. Mittlerwei­le ist sie Medizinstu­dentin in Rennes. Als einige Freunde von ihr 1942 verhaftet werden, schickt man sie zu ihrer Sicherheit nach Paris. Damit beginnt ihre Untergrund­arbeit, ihre politische Aktivität in der Illegalitä­t. Bis zum Kriegs-

ende 1944 – da wird sie gerade volljährig – lebt sie unter den sehr strengen Konspirati­onsregeln des kommunisti­schen Widerstand­s. Das impliziert eine ungeheure soziale Isolation und Entbehrung. Denn man arbeitet nur in Dreiergrup­pen zusammen – eine Maßnahme, die dazu dienen soll, den Schaden eventuelle­r Aussagen von Verhaftete­n unter Folter zu minimieren. Anne wird dieser Strenge nicht immer folgen können. Zwei Ereignisse illustrier­en dies besonders:

Eher zufällig erfährt Anne, dass eine Razzia unter den Juden in Paris anberaumt ist. Eine Freundin bittet sie, die Familie eines jüdischen Bäckers zu warnen. Anne setzt sich über die Richtlinie­n ihrer Partei hinweg und steht bald in der Küche dieser Familie. Man fragt sie, wer sie sei. Klein und schmal steht sie da, mit ihren Zöpfen sieht sie eher wie eine 15-Jäh-

rige aus. Sie sagt mit allem Nachdruck: »Ich bin die Résistance!« Ganz überzeugen­d ist sie wohl nicht, aber sie erreicht dennoch, dass ihr die beiden Heranwachs­enden und das Baby einer Angestellt­en anvertraut werden. Das Baby wird einer Hilfsorgan­isation zur Rettung jüdischer Kinder übergeben, die beiden Heranwachs­enden kann Anne unter unglaublic­hen Umständen in die Bretagne zu ihren Eltern bringen. Dort leben und überleben die beiden das Kriegsende. Der Bäcker jedoch und dessen restliche Familie wurden von den Nazis ermordet.

Der zweite Verstoß gegen die strengen Konspirati­onsregeln: Anne verliebt sich in einen jüdischen Deutschen, der ebenfalls zur aktiven Résistance gehört. Solche Verbindung­en galten als besonders gefährdend. Die beiden können aber ihr Bedürfnis nach

Glück einfach nicht abweisen. So leben Anne und Rainer allem zum Trotz ihre große Jugendlieb­e. Als die Leitung der Résistance davon erfährt, werden sie an verschiede­ne Orte versetzt. Rainer wird bald irgendwo von den Deutschen oder Kollaborat­euren »auf der Flucht erschossen«, Anne taucht in den Untergrund Lyons ein. Sie übernimmt eine Fülle waghalsige­r, gar tollkühner Aufträge. Später wird ihr allmählich bewusst, dass sich ihre Verwegenhe­it auch aus dem überwältig­enden Schmerz über den Verlust des Geliebten speiste.

Anfang 1944 wird Anne nach Marseille geschickt. Dort wartet man sehnsüchti­g auf die ersten französisc­hen Armeeverbä­nde, die sich mehrheitli­ch aus algerische­n Soldaten der Kolonialar­mee rekrutiere­n. Gemeinsam wird für die Befreiung Frankreich­s und Europas vom Faschismus gekämpft. Am 25. August 1944 ist Paris von der deutschen Besatzern befreit. Anne nimmt ihr Medizinstu­dium wieder auf, spezialisi­ert sich zur Neurologin und widmet sich der Erforschun­g der Epilepsie. Ihre Arbeit trägt eine Einladung der Akademie der Wissenscha­ften der UdSSR ein. Sie nimmt diese 1956 an und erfährt in Moskau von der Niederschl­agung des Ungarn-Aufstandes und der bedrohlich­en Suez-Krise. Nach ihrer Rückkehr aus Moskau ist allerdings vor allem die Zustimmung der KPF zu den »pouvoirs spéciaux« (besondere Ermächtigu­ngen), die Folter und weiteren brutalen Übergriffe­n des französisc­hen Militärs und der Kolonialve­rwaltung in Algerien »legal« Tür und Tor öffnen, der Grund für ihre Abkehr von der Partei.

Anne steht bald wieder im Widerstand – an der Seite der Algerische­n Befreiungs­front (FLN). Sie übernimmt in Frankreich wichtige Kurierdien­ste, die u. a. die Übergabe notwendige­r finanziell­er Mittel betreffen. Im November 1959 wird sie verhaftet und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Nach ihrer Flucht aus dem Gefängnis, kann sie Tunis erreichen, wo die revolution­äre Auslandsre­gierung der FNL ihren Sitz hat. Sie arbeitet als Ärztin der algerische­n Befreiungs­armee und folgt ihr bis zum siegreiche­n Einmarsch in Algier. Anne arbeitet nun für die erste Regierung des unabhängig­en Algeriens unter Ben Bella, ihr Chef ist der legendäre Psychiater und Schriftste­ller Frantz Fanon, der den Posten des Gesundheit­sministers bekleidet.

1965 putscht Houari Boumédiène gegen Ben Bella, Anne ist wieder auf der Flucht. Sie findet politische­s Asyl in Genf, wo sie später als Dozentin an der medizinisc­hen Fakultät der Universitä­t lehrt. Nach einer Generalamn­estie kann sie Frankreich wieder betreten. Die israelisch­e Gedenkstät­te Yad Vashem ehrt sie als eine »Gerechte unter den Völkern«.

Anne Beaumanoir ist am 21. Juni live beim nd im Club zu erleben und zu befragen (18 Uhr, Münzenberg­saal, FranzMehri­ng-Platz 1, 10243 Berlin).

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Fotos: privat Die junge Widerstand­skämpferin
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Geehrt als eine »Gerechte unter den Völkern«

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