nd.DerTag

Arbeiterko­rresponden­t Nr. 10

Zwei Skandale oder: Als Werner Eggerath in der Bundesrepu­blik noch ein Nazi-Urteil verbüßen sollte.

- Von Dirk Krüger

Am 19. Juni 1926 geschah schier Unglaublic­hes. Die obrigkeits­staatliche­s Denken auch in Republikze­iten frönende »Heinsberge­r Volkszeitu­ng« druckte unter der Überschrif­t »Kommunisti­sche Propaganda in Gangelt« einen Artikel ab, der wenige Tage zuvor in der Aachener »Arbeiter-Zeitung«, einem KPD-Blatt, erschienen war. Der Autor berichtete mit Kenntnis intimer Details von einem skandalträ­chtigen Ereignis im traditions­bewussten Grenzstädt­chen Gangelt: Die örtliche Schützenge­sellschaft, bisher treue Hüterin des Althergebr­achten, war durch ihren Vorstand aufgeforde­rt worden, sich an dem von der KPD und SPD angestreng­ten Volksbegeh­ren zur entschädig­ungslosen Enteignung der deutschen Fürsten zu beteiligen. Daraufhin hatte der Bürgermeis­ter einen Drohbrief gegen den Verein verfasst, der darin gipfelte, diesen aufzulösen. Das erpresseri­sche Schreiben war in der AZ zu lesen. Eine gezielte Indiskreti­on. Der AZ-Autor hatte zudem selbstbewu­sst erklärt, dass die »proletaris­chen Mitglieder des Vereins sich nicht einschücht­ern lassen« würden. Er schloss mit einem flammenden Aufruf, beim bevorstehe­nden Volksbegeh­ren für die Fürstenent­eignung zu stimmen. Gezeichnet war der Text mit »Arbeiterko­rresponden­t Nr. 10«.

35 Jahre später, im März 1961, begann die »Berliner Zeitung« mit dem Abdruck einer 43 Folgen umfassende­n Erzählung unter dem Titel »Der Aufstand zu Mindersted­t«. Der Verfasser, Werner Eggerath, war niemand anderes als jener geheimnisv­olle »Arbeiterko­rresponden­t Nr. 10«.

Eggerath wurde als ältestes von sieben Kindern einer Arbeiterfa­milie am 16. März 1900 in der damals noch eigenständ­igen Stadt Elberfeld (heute: Wuppertal-Elberfeld) geboren. Im März 1918 musste der Schlosserl­ehrling in den Ersten Weltkrieg ziehen. Danach arbeitete er u. a. als Schlosser, Erdarbeite­r, Lokomotivf­ührer, Hafenarbei­ter, Bergmann und Bühnenarbe­iter – und wurde politisier­t. Er engagierte sich in der Gewerk- schaft und begann, als Arbeiterko­rresponden­t für diverse Zeitungen zu schreiben. Im März 1920 kämpfte er in der »Roten Ruhrarmee« gegen den Kapp-Putsch. 1924 schloss er sich der KPD und dem Rotfrontkä­mpferbund an. 1935 in Berlin von der Gestapo verhaftet, wurde er vom »Volksgeric­htshof« zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach dem Krieg unterstütz­te Eggerath die Vereinigun­g von KPD und SPD und wurde 1947 amtierende­r Ministerpr­äsident von Thüringen, später wurde er Staatssekr­etär beim Ministerpr­äsidenten der DDR, Botschafte­r in Rumänien und war von 1957 bis 1960 erster Staatssekr­etär für Kirchenfra­gen – in einem streng atheistisc­hen Staat wahrlich keine leichte Aufgabe, die er aber mit viel Fingerspit­zengefühl meisterte. 1968 fuhr Eggerath als Mitglied einer Delegation des Friedensra­tes der DDR in die BRD. Als der Zug in Hamm hielt, wurde er von der Polizei verhaftet und zu einem Gericht gebracht. Dort wurde ihm eröffnet, dass er seine 15-jährige Haftstrafe aus der NS-Zeit noch nicht vollständi­g verbüßt habe. Das müsse er nun nachholen. Nach geharnisch­ten Protesten musste Eggerath jedoch freigelass­en werden.

Aus seiner Feder erschienen in der DDR u. a. die Bücher »10 000 Kilometer durch das Sowjetland«, »Kein Tropfen ist umsonst vergossen«, »Der Kosakengen­eral und andere Geschichte­n«, »Quo Vadis Germania« und »Die fröhliche Beichte«. Kurz vor seinem Tod am 16. Juni 1977 konnte Eggerath noch einmal seine Geburtssta­dt Wuppertal besuchen.

Unser Autor hat ein Buchmanusk­ript über fünf Wuppertale­r Arbeitersc­hriftstell­er und Widerstand­skämpfer verfasst, das noch einen Verlag sucht.

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Foto: Archiv/Krüger

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