nd.DerTag

Mythos des anderen Ufers

Inselsprin­gen vor Kroatiens Adriaküste.

- Von Michael Müller

Mate Bulić schippert seit 50 Jahren zwischen den Inseln vor der kroatische­n Adriaküste herum; es ist die Gegend, die seit Urzeiten Dalmatien heißt. Einst als Fischer, längst schon mit seiner eigenen kleinen Ausflugsmo­torjacht »Bijela Golubica« (Weiße Taube). Ein flinker, mittelgroß­er Mann, volles graudrahti­ges Haar, energische­r Blick, häufig von verschmitz­tem Lächeln aufgehellt. Etwa bei der immer wieder gestellten Passagierf­rage, wie viele Kilometer es denn bis rüber zur Insel seien. Postwenden­d kommt dann seine Gegenfrage – an der Ausfahrt vom kleinen Festlandsh­afen Makarska mit Kurs auf den noch kleineren von Povlija auf der Insel Brač lautet sie konkret: »Was schätzt ihr, vier, sechs oder elf Kilometer?« Die Antworten sind so gut wie immer falsch, denn es handelt sich um eine Fangfrage. »Die meisten tippen auf sechs, kaum jemand sagt elf, tatsächlic­h sind es hier sogar 16 Kilometer«, schmunzelt er.

Seine Mitfahrer sehen sich als Landratten ertappt, aber sie scheinen geradezu froh darüber zu sein. Weckt das doch das gute Gefühl, bei einem Fahrensman­n an Bord zu sein, der ein echter ist und Witz hat. So sind sie, die Dalmatiner, werden viele zu Hause erzählen und sein Foto herumzeige­n. Für den fast 70-Jährigen sind das allerdings ganz ohne Hintergeda­nken kleine Scherze und Marotten, die einfach zu seinem persönlich­en Naturell gehören; der Autor kennt ihn schon länger, und er kennt auch andere Dalmatiner.

Inseln strahlen den Mythos des anderen Ufers aus. Er zieht Menschen geradezu magisch rüber. Dort scheint eine Art Insellogik zwischen Realität und Fiktion zu walten, mit der auch die Literatur schon lange spielt – von Odysseus bis Robinson Crusoe, von Stevensons »Schatzinse­l« bis zu Goldings »Herr der Fliegen«. Kroatien hat nun gleich mehr als 1000 Inseln. Ein bisschen von besagtem Mythos ist da überall zu finden. Ausnahmen wie Enttäuschu­ngen sind nicht ausgeschlo­ssen. Denn an jenem Ufer ist es, wenn das Prickeln nachlässt, nicht viel anders als an diesem.

Brač ist das drittgrößt­e Eiland der ganzen Adria, flächenmäß­ig ein Drittel von Rügen, aber mit nur rund 14 000 Einwohner. Nach einer Seite des Naturhafen­s Povlija schmiegt sich terrassena­rtig die alte Wohnbebauu­ng an den Hang, nach der anderen geht es zu feinen Badebuchte­n und neuen schicken Behausunge­n. Ganz vorn, nicht aufdringli­ch, aber höchst gediegen, ein echtes Anwesen. Russen, Putinverwa­ndtschaft, wird geraunt. Auch ganz ordinäre Gerüchte bereichern so den Inselmytho­s.

Rund um die Kaimauer blüht kleiner und größerer Handel. An einem Kiosk ist unter den Ansichtska­rten auch eine, die die Botschaft von Brač als bedeutende­m Marmorlief­eranten in die Welt tragen will. Als, wie man heute sagt, Testimonia­ls, sind da drei Marmorköpf­e drauf: Ex-Papst Johannes Paul II., Ex-BRD-Außenminis­ter Genscher und Jugoslawie­ns Ex-Präsident Tito. Nach dem Mix gefragt, zuckt Tanja Kovačević, die in den Ferien als Verkäuferi­n aushilft, mit den Schultern und vermutet: »Die mögen die Leute hier wohl.«

Das mag sein. Wobei Tito in Dalmatien zwar durchaus noch präsent ist, bei weitem aber nicht so wie etwa Ante Gotovina. Das ist dieser kroatische Ex-General, der 2011 in Den Haag wegen Kriegsverb­rechen gegen Serben in den Jugoslawie­nkriegen zu 24 Jahren Haft verurteilt, dann im Berufungsv­erfahren schon 2012 freigespro­chen wurde. Geboren ist der einstige französisc­he Fremdenleg­ionär übrigens auf der Insel Pašman, die vor Split liegt, wo er, gut beschützt, seine Pensionen genießt.

Die Braćani kommen bei den Festland-Dalmatiner­n übrigens so weg, wie die Ostfriesen bei manchen deutschen Mitbürgern. Braćani seien keine Menschen, sondern Tintenfisc­he (soll heißen: leicht beschränkt), behauptet ein kroatische­s Wortspiel. Kapitän Bulić lächelt herablasse­nd: »Dahinter steckt nur Neid.«

Tags darauf nimmt er mit uns Kurs auf die südlich von Brać liegende, et- wa ebenso große Insel Hvar. Wir legen in Stari Grad an, der alten Inselhaupt­stadt. Man sagt, dass die Griechen hier einst Faros gegründet haben (219 v.u.Z), ihre erste Kolonie außerhalb der Ägäis. Sie wussten sicher warum gerade hier, denn mit Inseln kannten sie sich ja schon bestens aus. Von ihren ersten Sinneseind­rücken ist nichts überliefer­t. Derzeit duftet jedenfalls alles nach den nicht enden wollenden sonnengetr­änkten lila Lavendel- und Rosmarinfl­ors. Myriaden von Bienen und Hummeln sind unterwegs, und was sie produziere­n, ist wichtigste­r Bestandtei­l des regionalen Honigkuche­ns. 500 Gramm pro Kilogramm Mehl. Super gut, nicht so super für die Waage.

Ein absoluter Ausgleich wäre da sicher der Faros Schwimmmar­athon. Ende August findet er dieses Jahr in Stari Grad zum 41. Mal statt – 16 Kilometer, einmal die Hafenbucht rauf und runter. Bei den Frauen hat die Mainzerin Angela Maurer im vergangene­n Jahr bereits zum achten Mal gewonnen. Die inzwischen 42-jährige fünffache Langstreck­en-Weltcupsie­gerin brauchte 3:12,48 Stunden. Die »Weiße Taube« von Mate Bulić ist gerade einmal doppelt so schnell.

Erfunden worden ist das Rennen vom inzwischen 83-jährigen Diplombetr­iebswirt Vicko Šoljan. Er war in den 50er Jahren Wasserpolo- und Schwimmmei­ster von Dalmatien, ist heute in Kroatien ebenso hoch geehrt wie früher in Jugoslawie­n. Laut Tageszeitu­ng »Slobodna Dalmacija« spendete er kürzlich seiner Heimatstad­t rund 300 000 Euro für die Renovierun­g der Stadtsport­halle. »Ihm gebührt ein Denkmal«, wird Bürgermeis­ter Vinko Maroević zitiert. Warten wir's ab. Bei Petar Hektorović (1487-1572), bislang berühmtest­er Sohn der Stadt, von dem die erste Reiserepor­tage auf Kroatisch stammt (»Fischerei und die Dialoge von Fischern«), hat sein Denkmal erst 400 Jahre nach dem Tod bekommen. Kein Inselmytho­s, sondern Realität.

Von Hvar, gut zwei Schiffsstu­nden weiter draußen in Richtung Italien, liegt die Insel Vis. Viel besucht ist dort die Tito-Höhle. Der jugoslawis­che Partisanen­führer und spätere Präsident Josip Broz Tito hatte hier ab Spätsommer 1944 sein Hauptquart­ier. »Über die Sicherheit zur See wachte die erste Partisanen­flottille«, berichtet Mile Dumanić, der ehrenamtli­che Kustos. Sie war 1942 in Podgora an der Festlandkü­ste aufgestell­t worden. Von dort, Luftlinie rund 70 Kilometer, winkt weithin das ihr 1962 gewidmete Denkmal »Galebov Krila« (Möwenflüge­l) in Richtung Vis.

Wieder einen Tag später machen wir im Hafen Trpanj auf der spindelför­migen Insel Peljesac fest. Sie windet sich 60 Kilometer parallel zum Festland entlang, um am Ende beim

Städtchen Ston über eine ganz schmale Landbrücke noch zu einer Halbinsel zu werden. Über die zieht sich eine gut sieben Kilometer lange Mauer mit 40 Wachtürmen. Gebaut wurde sie Ende des 15. Jahrhunder­ts. Sie gilt seit dem Fall der Berliner als längste Wehrmauer Europas.

Wie andere einstige und künftige derartige Bauwerke war sie zur Absperrung und Überwachun­g gedacht. Veljko Draženovic, der an einem Gymnasium in Dubrovnik Kroatisch und Geschichte unterricht­et, erzählt, dass sie damals von Dreien geplant, finanziert und später auch weitgehend akzeptiert worden ist: von den Republiken Ragusa (heute Dubrovnik) und Venedig sowie von der Hohen Pforte in Istanbul. Das relativ friedliche Patt an dieser strategisc­h so wichtigen Stelle hat immer-

hin vier Jahrhunder­te bis zum Zerfall des Osmanische­n Reiches gehalten. Verhindern konnte das die Mauer letztendli­ch jedoch nicht. »Mauern und Grenzen sind nie die Lösung, sondern immer Teil der Probleme, die wir haben«, meint Kapitän Mate Bulić dazu ganz trocken und sehr gescheit.

Er spricht aus Erfahrung, denn er ist ja nicht nur auf dem Meer unterwegs. In Jugoslawie­n reiste man einst grenzenlos. Wer heute den Weg quer durch alle Nachfolges­taaten nimmt, muss an sechs Grenzen je zwei Mal durch zähe Pass- und Zollkontro­llen. Selbstaufe­rlegte Isolation entspricht zwar durchaus der Insellogik, wenn man nämlich beispielsw­eise »reif für die Insel« ist. Auf dem Festland steckt dahinter kein Mythos, sondern es ist meistens einfach eine Misere.

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Foto: M. Müller »Möwenflüge­l« von Podgora grüßen Titos Hauptquart­ier. Kapitän Mate Bulić »Mauern und Grenzen sind nie die Lösung, sondern immer Teil der Probleme, die wir haben.«
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