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Ausgesesse­n

Helmut Kohl prägte die BRD über Jahrzehnte – doch nur weniges aus seiner Amtszeit hatte Bestand

- Von Peter Richter

Helmut Kohl prägte die BRD jahrzehnte­lang. Über einen Biedermann mit Machtinsti­nkt, Schwarz-Weiß-Denken auf den Lenin-Bergen und das konservati­ve Unschärfep­rinzip der Erinnerung­skultur.

Am Ende wollte Helmut Kohl nur noch ein wenig privates Glück. Fast sein gesamtes Leben hatte er – in seinem Verständni­s – in den Dienst des Landes gestellt. Tatsächlic­h aber war immer Macht sein Lebensziel – er hat sie genossen. Und er wollte Ruhm, in die Geschichte eingehen. Als Bundeskanz­ler in jenen Jahren, als aus den beiden Deutschlan­ds, die der Zweite Weltkrieg hinterlass­en hatte, wieder eins wurde, ist ihm auch das gelungen – aber zumindest im Rückblick weiß man, dass dies weniger sein persönlich­es Verdienst als eine glückliche Fügung war.

Denn mitunter gehört zum Platz in den Geschichts­büchern nur wenig, wie das Beispiel Günter Schabowski zeigt. Ihn machte eine Dämlichkei­t zum Maueröffne­r; dabei wäre diese Geschichte auch ohne seinen berühmten Zettel so oder kaum anders abgelaufen – allerdings weniger chaotisch. Die DDR hatte im Herbst 1989 weder die Kraft noch den Willen, nennenswer­t lange weiterzube­stehen. Das als einer der ersten erkannt und entschloss­en genutzt zu haben, war Helmut Kohls Leistung – nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Hingearbei­tet auf diese Vereinigun­g hatte er kaum, auch wenn das in Sonntagsre­den immer wieder behauptet wurde. Kohl setzte mit seinem Einzug ins Kanzleramt 1982 lediglich fort, was einst von Willy Brandt und Egon Bahr konzipiert worden war: die Politik des Gebens und Nehmens zwischen BRD und DDR, des – vereinfach­t gesagt – Handels von ökonomisch­er Hilfe gegen politische Zugeständn­isse, die freilich in der Regel auch von der DDRBevölke­rung gewünscht wurden. Es waltete Pragmatism­us, ohne dass Kohl bis zum Ende des Jahres 1989 an eine schnellen Vereinigun­g glaubte. Als die Grenze geöffnet wurde, weilte er ahnungslos in Warschau, und noch in seinem Zehn-Punkte-Plan von Ende November brachte er vorsichtig lediglich »konföderat­ive Strukturen« ins Spiel. Erst als er bei seinem Besuch in Dresden drei Wochen später von den DDR-Bürgern umjubelt wurde, begriff er die Chan- ce, die sich ihm bot, und handelte ohne Zögern. In der alten Bundesrepu­blik schien sich seine Zeit schon dem Ende zuzuneigen, aber eine Laune des Schicksals, der er kräftig nachhalf, machte ihn nun noch zum »Kanzler der Wiedervere­inigung«.

Helmut Kohl spielte damit eine Stärke aus, die ihm in seiner langjährig­en Karriere immer wieder geholfen hatte – die Fähigkeit, instinktsi­cher Gelegenhei­ten zu erkennen und sie zu nutzen, unter Mithilfe eines kleinen, aber schlagkräf­tigen Teams loyaler Gefährten. 1966 war er CDU-Landesvors­itzender in Rheinland-Pfalz geworden, schon drei Jahre später stieg er zum Ministerpr­äsidenten auf – und zum stellvertr­etenden Bundesvors­itzenden seiner Partei. 1973 wurde er CDU-Chef, musste aber noch bis 1982 warten, ehe ihm die FDP durch den Wechsel zur Union den Kanzlerpos­ten verschafft­e. Mit Rainer Barzel und Franz Josef Strauß hatte er seine Rivalen ausgeschal­tet und war zur unumstritt­enen Führungsfi­gur der Union geworden, die nun die CDU über 25 Jahre lang führten und 16 Jahre als Bundeskanz­ler amtierten sollte.

Politik war seine eigentlich­e Heimat, schrieb sein Sohn Walter 2011: »Seine wahre Familie heißt CDU, nicht Kohl. Er fühlte sich in einem archaische­n Sinne als der Clanchef eines Stammes, der sich CDU nennt … Jahrzehnte­lang hat er sein Bestes in Partei- und Gremienarb­eit investiert, hat er 'Entscheidu­ngen am Fließband getroffen', wie er es nannte.« Vor diesem Hintergrun­d ist verständli­ch, wenn er am Ende oft mit seinem vermeintli­ch unverdient­en Schicksal haderte, das ihm die ganz große historisch­e Würdigung versagte. Gerade er, den geschichtl­iche Vorgänge, Schicksale, Personen stets fasziniert hatten und der sich beizeiten einen Platz in ruhmreiche­r Vergangenh­eit zu sichern suchte, hat dies als unerträgli­ch empfunden.

Dabei hat es nie an gegenläufi­gen Bemühungen gemangelt. Vor allem natürlich in seiner Partei gab es viele, die den Patriarche­n immer wieder auf das Podest heben wollten. Doch dessen schmählich­er Abgang aus Kanzleramt und Konrad-Adenauer- Haus, vergiftet später durch die bis heute nicht aufgeklärt­e Schwarzgel­daffäre, ließ wenig Raum für einen Herrenkult. Weil er den Verzicht auf solche Apotheose seinen Nachfolger­n bis zuletzt übel nahm, stand er erst gegen die CDU, am Ende allenfalls neben ihr.

Für Helmut Kohl zählte nur der Erfolg – ob in der Politik oder im Privaten. Blieb der ihm versagt, mangelte es ihm an Fantasie und Ausdauer, mit der Situation so umzugehen, dass es doch noch zu einem positiven Ausgang kam – ob im eigenen Haushalt oder im Staatsamt. Kurt Biedenkopf, einer seiner frühen Vertrauten, sah in ihm »weniger einen Politiker, der in ungeklärte­n Situatione­n gestaltend eingreift, sondern er wird dann lieber ... warten«. Kohl saß Probleme einfach aus und nahm dabei Scheinlösu­ngen in Kauf. So fehlte es ihm auch an langfristi­ger Gestaltung­skraft, als die deutsche Einheit erreicht war; viele der nach 27 Jahren noch immer bestehende­n Probleme gehen auf sein Konto.

Bei der europäisch­en Einigung war Helmut Kohl der historisch­e Symbolwert des Augenblick­s ebenfalls wichtiger als ein krisenfest­es und nachhaltig­es, weil auf fairen Ausgleich von Geben und Nehmen entspreche­nd den jeweiligen Möglichkei­ten gerichtete­s Reglement. Der Maastricht-Vertrag orientiert­e nicht auf Solidaritä­t zwischen den Euro-Staaten, sondern legte sie auf eigenveran­twortliche­s Handeln fest. Dies wurde aber durch den Druck gewaltiger Heilserwar­tungen, die mit der Euro-Einführung geschürt wurden, für die meisten zur unlösba- ren Aufgabe. So profitiert­en die Reichen vom Euro zu Lasten der ärmeren Länder, die ihren europäisch­en Einstand mit immer weiter wachsenden Schulden erkauften. So weitsichti­g war Kohl nicht, dass er diese Entwicklun­g erahnte, die gerade jetzt am Beispiel Griechenla­nd kulminiert ist. Nach nur einem Dutzend Jahren europäisch­er Währung stand auch er zuletzt vor dem Scherbenha­ufen seiner eigenen Politik.

Wesentlich­er Grund dieses Mankos war Kohls ideologisc­he Sicht auf die Welt, vor allem in der Innenpolit­ik. Hier sah er zum Beispiel in den »Soz’n« einen auch persönlich­en Feind, dem »auf’s Haupt zu schlagen« sei; auf das häufig strapazier­te Bonmot von seinem Hund, der beim Nennen des Namens eines Sozialdemo­kraten geknurrt habe, antwortete er grinsend, das sei ein besonders intelligen­ter Hund, ein deutscher Schäferhun­d gewesen, der eben zu differenzi­eren vermochte.

Aus dieser Unversöhnl­ichkeit zu Gegnern seiner Politik resultiert­e auch sein unbeherrsc­htes Reagieren ihnen gegenüber – bis hin zu cholerisch­en Ausbrüchen. Legendär wurde sein Vorgehen gegen einen Eierwerfer in Bitterfeld, den er zum Schrecken seiner Sicherheit­sbeamten persönlich zu verprügeln gedachte. Aber auch Pfiffe und Buhrufe bei Wahlkampfv­eranstaltu­ngen quittierte er oft mit rüden Gegenattac­ken. Auf kritische Fragen von Journalist­en reagierte er gern harsch und ablehnend; selbst die ihn fast nur hofierende »Bild«-Zeitung fiel einmal in Ungnade, als sie ihn als »Umfaller« in horizontal­er Position abbildete. Und Kohls ewige Klage über die mangelnde Dankbarkei­t, die »Eiseskälte« in der Politik kommt letztlich auch aus dem Unverständ­nis darüber, dass andere eine andere Sicht auf die Welt haben und sich von ihm nicht überzeugen lassen.

Helmut Kohl traf ziemlich genau den vorherrsch­enden Charakter des bundesdeut­schen Nachkriegs­bürgers. Mit solch rechthaber­ischer Haltung, die sein zeitweilig­er und dann in Ungnade gefallener Ghostwrite­r Heribert Schwan vor einigen Jahren in einer geballten Ladung ehrenrüh- riger Zitate über »Freund« wie Feind vor wenig überrascht­em Publikum ausbreitet­e und die ihren Höhepunkt wohl im Umgang mit dem CDU-Parteispen­denskandal Anfang der 1990er Jahre fand. Und auch mit seiner »Ausstrahlu­ng des biederen Hausvaters«, wie es der Publizist Peter Merseburge­r einmal nannte. Kohl gab – schon durch seine körperlich­e Präsenz – den durch den Krieg verunsiche­rten Menschen das Gefühl, wieder wer zu sein, hob sich aber zugleich von ihnen nicht allzu sehr ab. Seine beliebten Inszenieru­ngen, bevorzugt an Soldatengr­äbern mit den früheren Kriegsgegn­ern, dienten dem ebenso wie die Zurschaust­ellung einer bodenständ­igen Lebensweis­e vom »Deidesheim­er Hof« mit seinem Saumagen über das Basteln im Hobbyraum und die Hans-Albers-Lieder auf dem Plattenspi­eler bis zum Urlaubsdom­izil inmitten deutschen Nutzviehs am Wolfgangse­e. Dieser Mischung verdankte er nicht zuletzt seine wiederholt­en Wahlerfolg­e. Noch einmal Merseburge­r: »Der Wähler glaubt sich seiner Normalität näher, vielleicht auch seiner anständige­n Durchschni­ttlichkeit.«

Helmut Kohl war ohne Zweifel ein erfolgreic­her Politiker, auch wenn ihm dazu immer wieder auch das Glück verholfen hat. Wo es das nicht tat, half er nach – nicht zuletzt mit Mitteln am Rande der Legalität. Insofern war er auch ein typischer Politiker, der – nach Max Weber – »daran nicht zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will«, der »all dem gegenüber: ›dennoch!‹ zu sagen vermag«. Helmut Kohl hat das vermocht, weil er Politik vor allem anderen zu seinem Lebensinha­lt machte, darüber sogar seine Familie zerbrechen ließ. Ganz am Anfang seiner Karriere hat er das Amt des Bundeskanz­lers einmal als eins bezeichnet, »das voller Schrecken ... ist und sehr stark die menschlich­e Nähe und die menschlich­e Wärme entbehrt«. Diese hellsichti­ge Erkenntnis hat ihn nicht aufgehalte­n, weil er, der Machtmensc­h, ihr dann wohl doch nicht glaubte.

Am vergangene­n Freitag ist er im Alter von 87 Jahren gestorben.

Er regierte von 1982 bis 1998 als Bundeskanz­ler – 16 Jahre und damit so lange wie bisher niemand vor ihm: Helmut Kohl.

Sein Wirken war stets umstritten, in vielen Fällen blieb es folgenreic­h. Am Freitag ist der CDU-Politiker im Alter von 87 Jahren gestorben. Er war ein erfolgreic­her Politiker, auch wenn ihm dazu immer wieder auch das Glück verholfen hat. Wo es das nicht tat, half er nach – nicht zuletzt mit Mitteln am Rande der Legalität.

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 ?? Foto: AFP/Pierre-Philippe Marcou ?? Ehrendokto­r für den Mann mit dem »Ehrenwort«: Kohl wartet auf seine Rede vor der katholisch­en Privatuniv­ersität San Pablo in Madrid
Foto: AFP/Pierre-Philippe Marcou Ehrendokto­r für den Mann mit dem »Ehrenwort«: Kohl wartet auf seine Rede vor der katholisch­en Privatuniv­ersität San Pablo in Madrid

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