Zwei Pfund billiger
Die Proteste nach dem Brand in London mit fast 60 Toten werden zum Aufruhr gegen die Tory-Regierung
Wie viele Menschenleben der Brand im Londoner Sozialwohnhochaus Grenfell Tower kostete, ist immer noch unklar. Dutzende sind es. Der Brand zeigt, sagen Kritiker, wie die »Gier nach Gewinn tötet«.
Sie riefen »schämt Euch!« und »Mörder!« Ihre Forderung: »Wir wollen Gerechtigkeit« Und weil die Angehörige von Vermissten und Opfern der verheerenden Brandkatastrophe von London glauben, dass die Menschen nicht bloß einem Feuer, sondern der Politik und der Profitgier zum Opfer fielen, skandierten viele auch »Werft die Tories raus!« und »Trotzt der Tory-Herrschaft«
Nach dem Brand wächst die Wut über die Behörden, über die Regierung, über ein Kostendenken, das vermutlich 58 Menschenleben forderte, wie es nach neuesten Angaben der Polizei hieß. Noch 18 Verletzte sind im Krankenhaus, neun davon befanden sich am Sonntag noch in kritischem Zustand, wie die britische Gesundheitsbehörde NHS mitteilte
Tausende nahmen inzwischen an Demonstrationen in der britischen Hauptstadt teil. Hunderte Demonstranten hatten sich am Freitag vor dem Rathaus im Bezirk Kensington und Chelsea versammelt und Antworten von den Behörden gefordert. Antworten, die sie nicht oder nur zögerlich bekommen. Dutzende trommelten gegen die Scheiben des Rathauses und verlangten Einlass. Einige schafften es, ins Gebäude einzudringen, wo sich ihnen Polizisten und Sicherheitskräfte ihnen entgegenstellten.
Die Ursache für den Brand war am Wochenende weiter unklar, doch verstärken sich Vermutungen, sie könne mit der jüngsten Renovierung des 24stöckigen Gebäudes zusammenhängen. Das Hochhaus aus den 1970er Jahren wurde bis zum vergangenen Jahr für umgerechnet 9,9 Millionen Euro renoviert. Vor allem die Fassade wurde saniert und gedämmt. Dabei wurden aber unsichere Bauteile benutzt. In den Medien wurden immer mehr Details zu der Fassadenverkleidung bekannt, die in ihrer nicht feuerresistenten Form für Gebäude von mehr als zwölf Metern Höhe in den USA demnach verboten ist.
Immer wieder wird auf eines hingewiesen: Mit nur geringfügig höheren Investitionen hätte die Katastrophe wohl verhindert werden können. Bei der Fassadenverkleidung handelt sich um Aluminium-Panele namens Reynobond der US-Firma Arconic. Mit Kunststofffüllung koste sie 24 Pfund (27 Euro) und sei damit nur zwei Pfund billiger als die feuerfeste Variante, berichtete die »Times«. Der linke Europaabgeordnete Fabio De Masi sagte, »sie sind gestorben, weil sie arm waren«. Der Brand zeige, wie die »Gier nach Gewinn tötet«.
Der »Daily Telegraph« zitierte einen Brandschutzexperten, wonach die Panele wie ein »Windkanal« gewirkt hätten. Die Fassade mit ihren Hohlräumen habe »wie ihr eigener Kaminzug gewirkt«, sagte Arnold Turling. Wie die Zeitung weiter berichtete, hatte das Gebäude zudem keine zentrale Sprinkler-Anlage und keine Feuerschutztüren. Der Minister für Gemeinden und Kommunalverwaltung, Sajid Javid, sagte dem Rundfunksender BBC: »Etwas ist hier falsch gelaufen, etwas ist drastisch falsch gelaufen.« Ähnliche Gebäude würden nun auf vergleichbare Gefahren hin untersucht, vor allem hinsichtlich der Außenverkleidung.
Am Sonntag kam dann heraus: Die am Grenfell Tower benutzte brennbare Gebäudeverkleidung ist nach Auffassung des britischen Schatzkanzlers in Großbritannien verboten. Die strafrechtliche Untersuchung der Brandkatastrophe solle nun prüfen, ob es bei der Renovierung des Hochhauses gesetzliche Verstöße gegeben habe, sagte Philip Hammond in der BBC.
Der Bürgermeister der britischen Hauptstadt bringt unterdessen den Abriss von veralteten Gebäuden ins Gespräch. Dies könne bei Hochhäusern aus den 1960er und 1970er Jahren aus Sicherheitsgründen nötig werden, schrieb Sadiq Khan in einem Beitrag für »The Observer«. In der Wiederaufbauphase nach dem Krieg seien viele Hochhäuser entstanden, die heutigen Standards nicht mehr entsprächen.
Als Antwort auf die Proteste veröffentlichte die Bezirksverwaltung von Kensington und Chelsea am Wochenende eine Stellungnahme. Darin sicherte sie den obdachlos geworde- nen Bewohnern eine schnellstmögliche Umsiedlung innerhalb des Stadtteils zu. Finanzielle Hilfe für die Opfer sei bereits auf dem Weg. Mehrere Tausend Menschen nahmen unterdessen an einer Solidaritätskundgebung für die Brandopfer im Regierungsbezirk Westminster teil. Mit Bannern und Plakaten versammelten sie sich zunächst vor dem Ministerium für Kommunen. Die Behörde ist unter anderem für den Wohnungsbau verantwortlich. Dann zogen sie weiter Richtung Downing Street und skandierten »May muss gehen!«.
Die Wut auf Regierung und Behörden in Großbritannien wuchs am Wochenende immer weiter. VizePremier Damian Green wies am Samstagmorgen Vorwürfe zurück, Premier Theresa May habe nicht angemessen auf das Unglück reagiert. »Sie ist von den Ereignissen genauso bestürzt wie wir alle«, sagte Green der BBC. Die Regierung werde in den kommenden Tagen einen Vorsitzenden für die öffentliche Untersuchung des Brandes bestimmen.
Zuvor war May als »Feigling« beschimpft worden, als sie aus einer Londoner Kirche in der Nähe des Brandorts kam. Dort hatte sie den Opfern Hilfe in Millionenhöhe versprochen. Bei einem Fernsehinterview am Freitagabend hatte eine Journalistin May wiederholt gefragt, ob sie die Wut im Land nicht begriffen habe. Kritiker hatten May vorgeworfen, nicht schnell genug auf das Unglück reagiert zu haben. Außerdem hatte sie bei einem Besuch am Grenfell Tower am Donnerstag nicht mit den Opfern gesprochen. Der Oppositionsführer und Labour-Chef Jeremy Corbyn hatte derweil Betroffene getröstet.
Am Montag soll mit einer Schweigeminute der Opfer des Hochhausbrandes gedacht werden. Dann soll um 11 Uhr in allen öffentlichen Gebäuden Stille herrschen, teilte die Regierung mit. Sie verband dies mit einem Eingeständnis, immerhin: May sagte bei einem Treffen mit Opfern und freiwilligen Helfern, es habe Fehler der Regierung bei der Reaktion auf das Unglück gegeben. Die Unterstützung der Angehörigen, die kurz nach der Katastrophe Hilfe oder Informationen brauchten, sei »nicht gut genug« gewesen.
»Etwas ist hier falsch gelaufen, etwas ist drastisch falsch gelaufen«, sagt der Minister für Kommunalverwaltung. Der Schatzkanzlers meint, die benutzte Fassadendämmung sei in Großbritannien eigentlich verboten.