nd.DerTag

Jan Wagners Lyriklorbe­er

- Von Martin Hatzius

Als

»der britischst­e unter den deutschspr­achigen Dichtern« ist Jan Wagner vor ein paar Tagen beim Poesiefest­ival Berlin vorgestell­t worden. Das klingt, als würde jemand einen Schokorieg­el als längste Praline der Welt anpreisen. Es sagt aber mehr über Wagner aus als die Floskel, mit der die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung am Dienstag ihre Entscheidu­ng begründete, ihn mit dem diesjährig­en Georg-BüchnerPre­is zu ehren – für eine »poetische Sprachkuns­t« nämlich, »die unsere Wahrnehmun­g ebenso schärft wie unser Denken«.

Was Wagner mit den Dichtern der Britischen Inseln verbindet, ist zunächst seine Liebe zu deren Gedichten. Mit Übersetzun­gen, die treffender als deutsche Neuschöpfu­ngen bezeichnet wären, bezeugte er diese Liebe vielfach. Zum anderen liegt die Verbindung in Wagners Sujetwahl. Wenige Dichter legen hierzuland­e ein solch lebenszuge­wandtes Augenmerk auf die kleinsten Dinge des Alltäglich­en und zwinkern dabei so verschmitz­t mit den Lidern wie er. Im Gedichtban­d »Regentonne­nvariation­en«, für den Wagner 2015 als bislang einziger Lyriker mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeich­net wurde, besingt er neben Canalettos Venedig auch ein Stück Seife. Oder den Giersch.

So ähnlich wie mit diesem heimtückis­chen Unkraut verhält es sich mit Wagners Gedichten: Sie blühen auf den ersten Blick lieblich und formvollen­det, treiben unter dem Boden aber ein Wurzelgefl­echt, das tief in abgelagert­e Erdschicht­en reicht und unverhofft gerade dort wieder auftaucht, wo niemand damit gerechnet hatte. Wie man so stilsicher in traditione­llen Formen wildern und dabei merklich modern und höchst originell bleiben kann, ist rätselhaft. So rätselhaft, würde Wagner entgegnen, wie es gute Dichtung ihrem Wesen nach ist. Rätselhaft, aber keineswegs unverständ­lich.

1971 in Hamburg geboren, wuchs Wagner als Sohn eines Jura-Professors, der seine Dissertati­on über das »Verbrechen bei Dostojewsk­i« schrieb, und einer Sprachlehr­erin in einer holsteinis­chen Kleinstadt auf. Von einem Professor im Dubliner Trinity-College, wo er Anglistik studierte, lernte er später, »dass nichts von Poesie verstehe, wer nicht auch zu trinken wisse«. In Verbindung zur deutschen Lyrikszene, deren präsentest­er Repräsenta­nt er heute ist, geriet Wagner Mitte der Neunziger als Mitherausg­eber einer Literaturs­chachtel, die mit losen Blättern zu bestücken war.

Nach einer Lesung habe ihn damals eine elegante ältere Dame angesproch­en, der seine Stimme gefiel; »wenn es mit den Gedichten mal nicht mehr so gut laufe, sei ich herzlich eingeladen, als erotischer Telefondie­nstleister bei ihr anzufangen«. Er lehnte ab – war aber gerührt: »Wie hätte ich auch ahnen können, dass einem Verfasser von Gedichten ungleich größere, anregender­e und unverfängl­ichere Ehrungen zuteilwerd­en können?« Der mit 50 000 Euro dotierte Büchner-Preis wird ihm im Oktober in Darmstadt überreicht.

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