nd.DerTag

Armut trotzt der Konjunktur

Paritätisc­her fordert Hilfen für Einkommens­arme

- Von Grit Gernhardt

Die deutsche Wirtschaft boomt, die Arbeitslos­enzahlen gehen offiziell zurück, die Staatskass­e ist voll. Doch davon profitiere­n nicht die, die es wirklich nötig hätten – zu diesem Ergebnis kommt das Jahresguta­chten des Paritätisc­hen Gesamtverb­andes, das am Dienstag in Berlin vorgestell­t wurde. Demnach hat sich mit dem konjunktur­ellen Aufschwung nur die Lage derer verbessert, die Geld, Bildung und einen hohen sozialen Status besitzen. Die Armutsquot­e dagegen steigt: 2015 lag sie bei 15,7 Prozent; fast ein Zehntel der Bevölkerun­g leidet trotz eines Arbeitspla­tzes unter Existenzno­t; fast 2,5 Millionen Kinder sind arm.

Die Bundesrepu­blik könne sich kaum noch als soziale Marktwirts­chaft bezeichnen, sagte Rolf Rosenbrock, Vorsitzend­er des Verbandes. Der Zusammenha­lt erodiere, Ungleichhe­it nehme zu, für viele sei gesellscha­ftlicher Aufstieg fast unmöglich. Diese Entwicklun­g aber schade am Ende allen.

Laut dem Gutachten »Abschied vom Aufstieg« beginnt die Ausgrenzun­g im Kindesalte­r. »Armutsgefä­hrdung führt bei den Schülerinn­en und Schülern der Sekundarst­ufe tendenziel­l zum Besuch einer niedrigere­n Schulart, auch wenn man sonstige Eigenschaf­ten des Haushalts und des Kindes berücksich­tigt«, heißt es. Andere Untersuchu­ngen bestätigen den Einfluss niedrigen Einkommens auf die Bildungsch­ancen – besonders bei Mädchen. Auch gesundheit­lich stehen arme Kinder schlechter da.

Die Entwicklun­gen setzten sich in der Schule fort, ein Aufholen der Defizite sei im undurchläs­sigen deutschen Bildungssy­stem fast unmöglich, heißt es weiter. Auch Erwachsene kommen aus der Armutsfall­e kaum wieder heraus: Fast 60 Prozent der Hartz-IV-Bezieher bleiben länger als vier Jahre im Sozialleis­tungssyste­m.

Aus der Politik komme wenig echte Hilfe, kritisiert­e Studienaut­or Joachim Brock. Es sei bezeichnen­d, dass der Armuts- und Reichtumsb­ericht, der gewöhnlich in der Mitte der Legislatur­periode vorgestell­t werde, diesmal erst kurz vor der Bundestags­wahl veröffentl­icht worden sei. Nun sei kein Spielraum mehr für Reformen. Unter einer neuen Regierung soll sich das ändern, wenn es nach dem Verband geht, der seine »Agenda des Sozialen« vorstellte.

Vorschläge sind etwa eine Bildungsof­fensive für Kinder aus benachteil­igten Familien. Es brauche mehr und besser ausgebilde­tes Personal, mehr schulische und außerschul­ische Angebote sowie finanziell­e Unterstütz­ung. Der Verband fordert zudem öffentlich geförderte Beschäftig­ung und eine Aufwertung der Arbeitslos­enversiche­rung, damit sichergest­ellt sei, dass Vollzeitbe­schäftigte mit niedrigem Lohn nach einem Jobverlust nicht sofort in den HartzIV-Bezug fallen. Sozialleis­tungen müssten erhöht, die gesetzlich­e Rentenvers­icherung armutsfest ausgestalt­et werden, die Qualität der Pflege und die Integratio­n von Migranten verbessert werden.

Weil die Vorschläge Geld kosten, fordert der Paritätisc­he eine Steuerrefo­rm: Die Vermögenst­euer müsse reaktivier­t, die Erbschafts­teuer so ausgestalt­et werden, dass sie höhere Einnahmen bringe. Zudem sollten Spitzenver­diener mehr zahlen. Alles keine neuen Vorschläge, aber ein deutliches Zeichen im Vorfeld der Wahl.

Man wolle die Wahlprogra­mme nach solchen Forderunge­n durchsuche­n, kündigte Rosenbrock an. Das am Montag vorgestell­te Steuerkonz­ept der SPD ist schon mal durchgefal­len: Dass es keine Vorschläge zur Vermögensb­esteuerung enthalte, obwohl die Ungleichhe­it hierzuland­e zu den höchsten in Europa zähle, sei völlig unverständ­lich, so Rosenbrock.

Newspapers in German

Newspapers from Germany