Armutskrankheit als Geschäft
Nicht nur multiresistente Erreger machen Indien im Kampf gegen Tuberkulose zu schaffen
Indiens nationale Strategie gegen Tuberkulose wird zum Teil durch Chaos und Profitsucht im privaten Gesundheitswesen unterlaufen.
Beginnen wir mit zwei guten Nachrichten. Tuberkulose ist heilbar und die Behandlung mit Medikamenten in Indien ist kostenlos. Die schlechten Nachrichten: Zehntausende Inder verschulden sich trotzdem dramatisch für eine Tuberkulosetherapie und entwickeln zudem oft resistente Erreger, die auf die gängigen Medikamente nicht ansprechen und auf andere Menschen übertragen werden können.
Tuberkulose (TB) ist eine von Bakterien verursachte Lungenkrankheit. Sie gehört zu den zehn tödlichsten Krankheiten der Welt. 2015 waren weltweit zehn Millionen Menschen an der TB erkrankt und 1,8 Millionen starben an der Infektion. Indien war 2015 mit 1,74 Millionen Tuberkulosekranken eines der am stärksten betroffenen Länder. Die Zahl der TBFälle in Indien war laut WHO zwischen 2013 und 2015 um 34 Prozent gestiegen.
Obwohl Indien im Rahmen seiner nationalen Strategie zur TB-Ausrottung (National Strategic Plan for TB Elimination – NSPTE) keine Kosten und Mühen scheut, bis 2025 die TB zu eliminieren, sieht die Zukunft düster aus. Das Problem sind die gegen die gängigen Medikamente resistenten Erreger, englisch MDR-TB abgekürzt. Die gibt es zudem auch als extreme Variante, kurz XDR-TB. Dagegen stehen als Behandlungsoptionen nur noch zwei Reserveantibiotika zur Verfügung.
Eine Gruppe von Wissenschaftlern zeichnet in einer im Mai in dem renommierten Medizinjournal »The Lancet« veröffentlichten Studie ein Schreckensszenario. Bis 2040 werden in den vier besonders stark von der TB betroffenen Ländern Südafrika, den Philippinen, Russland und eben Indien die Fälle der MDR-TB stark ansteigen. In jedem dieser Länder, so die Studie, werden sich zudem neun Prozent der MDR-TB zur Extremform XDR-TB entwickeln, die durch falsche Dosierungen und Einnahme der Gegenmittel entsteht. »Medikamentenresistente Tuberkulose wird auch durch Kontakte mit einem TB-Betroffenen übertragen, wenn die Person hustet, niest oder spricht....«, warnt Aditya Sharma vom US-amerikanischen »Centers for Disease Control and Prevention« und Chefautorin der Studie.
TB wird mit Antibiotika behandelt, was mit einer Dauer von gut sechs Monaten wegen der Natur des Erregers Mycobacterium tuberculosis jedoch langwierig ist. Einige Antibiotika greifen Bakterien bei deren Teilung an. Der TB-Erreger aber hat eine sehr langsame Teilungsrate und zudem eine harte, in Fettmoleküle eingebettete Zellwand, die wie ein Schutzschild wirkt.
Sehr viele Kranke halten die lange Therapiezeit nicht durch. Kaum fühlen sie sich besser, setzen sie die Pillen ab. Der Abbruch einer Therapie aber führt geradewegs zur Entstehung resistenter Erreger. Die können zwar mit Spezialmedikamenten bekämpft werden, aber diese Therapie kann bis zu drei Jahren dauern und ist deutlich teurer.
Niemand ist vor Mycobacterium tuberculosis sicher. Trotzdem ist TB oft eine Krankheit der Armen. Schlechte hygienische Bedingungen, offene Kanalisation und viele Menschen auf engstem Raum in den Slums der indischen Metropolen sind ideale Brutstätten für das Bakterium. Noch gefährdeter sind Menschen mit HIV, für die das TB-Infektionsrisiko um das 20- bis 30-fache höher liegt.
Das gilt für Indien ebenso wie für die Philippinen. Die Inselrepublik im Pazifik will Tuberkulose bis 2022 ausgerottet haben. Ein Mittel dazu ist das Testverfahren »Genexpert«, mit dem die Erreger früher und schneller entdeckt werden können. Je früher eine TB diagnostiziert wird, desto früher kann die Therapie beginnen. Genexpert ist teuer, steht den Betroffenen aber trotzdem kostenlos zur Verfügung. Für Gesundheitsministerin Paulyn Jean Rosell-Ubia ist es ein einfaches Rechenexempel: die normale Therapie kostet umgerechnet 175 Euro, die Behandlung einer multiresistente Variante aber umgerechnet 3580 Euro.
»Die Situation in Indien ist sehr ernst und es wird schlimmer«, weiß Abhilesh Thomas. Dabei hätte der Programmmanager der »Coalition for AIDS and Related Diseases« eigentlich allen Grund, stolz auf die Erfolge der Koalition zu sein. Sie wurde von Organisationen der indischen katholischen Kirche gebildet. Seit 2011 diagnostizierten ihre Ärzte 42 000 Menschen mit TB und behandelten sie anschließend. Bei 16 000 Veranstaltungen und einer Million Hausbesuche wurden Menschen über die Krankheit, die Bedeutung einer konsequenten Therapie und die Gefahren der Resistenzen aufgeklärt.
»In allen von uns betreuten Fällen haben die Menschen ihre Therapie bis zum Schluss durchgehalten«, sagt Thomas, dessen Projekt vom »Global Fund to Fight AIDS, Tuberculosis and Malaria« finanziert wird.
Trotz der Erfolge dieser Koalition und ähnlicher Organisationen, trotz der Anstrengungen der indischen Behörden im Verbund mit der Weltgesundheitsorganisation und der finanziellen Unterstützung internationaler Geberorganisationen und -länder, trotz der kostenlosen TB-Behandlung in staatlichen Krankenhäusern steuert Indien auf eine Katastrophe zu. Grund ist der private Gesundheitssektor.
»Die Daten verkaufter Medikamente lassen vermuten, dass alleine 2014 mehr als 2,2 Millionen Patienten im privaten Gesundheitssektor behandelt wurden – das sind mehr als doppelt so viele als nach bisherigen Schätzungen«, schreibt Madhukar Pai in einem Beitrag für »The Lancet«.
Der Experte des Internationalen TB-Zentrums der McGill Universität in Kanada hat darin das indische An- ti-Tuberkulose-Programm unter die Lupe genommen. Indische Medien sind voll von Berichten über die massiven Unzulänglichkeiten des privaten Gesundheitssektors. TB-Fälle werden selten gemeldet, Apotheken verkaufen Medikamente ohne Rezept, Ärzte in privaten Krankenhäusern lassen sich Behandlung und Medikamente teuer bezahlen. Patienten verschulden sich ohne Ende, weil es an Aufklärung über die kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern fehlt.
Das Schreckensszenario in der Lancet-Studie hält Pai deshalb noch für untertrieben. »Das Modell (der Studie) hat den privaten Sektor nicht einbezogen. Das Risiko der MDR-TB kann in Indien also noch größer sein, wenn wir die schlechte Qualität des privaten Gesundheitssektors mit in Betracht ziehen«, warnt Pai gegenüber dem nd.
Auch sonst steht Pai den hehren Zielen der Tuberkulose-Eindämmung in Indien skeptisch gegenüber. Der Gesundheitssektor sei chronisch unterfinanziert. Das gelte auch für die nationale Anti-Tuberkulose-Strategie. NSPTE-Manager Abhilesh Thomas ist optimistischer. »Der politische Wille ist da. Die Regierung meint es ernst.«
Die Antibiotikatherapie dauert sechs Monate, weil der TB-Erreger eine sehr langsame Teilungsrate hat. Zudem wirkt seine harte Zellwand wie ein Schutzschild.