nd.DerTag

Arbeit ist wichtiger als die Religion

Protestant­en und Katholiken, Juden und Atheisten engagieren sich in der Flüchtling­shilfe

- Von Andreas Fritsche

Im historisch­en Kutschstal­lhof am Potsdamer Neuen Markt gab es am Mittwoch ein Dialogforu­m »Religionen und Weltanscha­uungen als Integratio­nsfaktoren«.

Einstmals fanden die französisc­hen Hugenotten in Brandenbur­g Asyl, heute sind es syrische Muslime. Was sie verbindet? »Die Religion war und ist ein Faktor in ihrem Leben und sie gab und gibt Halt und Orientieru­ng«, sagt am Mittwoch Ministerpr­äsident Dietmar Woidke (SPD). Er selbst ist evangelisc­her Konfession, allerdings kein fleißiger Kirchgänge­r – und er betont: »In unserer Gesellscha­ft gilt der Rechtsstaa­t. Religion steht nicht über den Gesetzen.«

Menschen aus ganz Brandenbur­g und aus Berlin sind zusammenge­kommen im historisch­en Kutschstal­lhof Am Neuen Markt 9a in Potsdam. Hier gibt es ein Dialogforu­m »Religionen und Weltanscha­uungen als Integratio­nsfaktoren«, wobei allerdings Susanne Krause-Hinrichs von der F.C. Flick-Stiftung die Sache zurechtrüc­kt, indem sie eine Studie zitiert, wonach Arbeit und Bildung viel entscheide­nder für die Integratio­n seien als die Religion. Ministerpr­äsident Woidke bemerkt bei der Veranstalt­ung zufrieden: »Juden sitzen mit Muslimen zusammen, dazu Protestant­en mit Katholiken.«

»Es ist wichtiger, miteinande­r zu reden als übereinand­er«, findet Ud Joffe, Vorsitzend­er der Synagogeng­emeinde Potsdam. Das Wort Integratio­n komme aus dem Lateinisch­en und bedeute Erneuerung, erklärt Joffe. Durch die Zuwanderun­g werde sich Deutschlan­d verändern, ist seine Überzeugun­g. Er beruhigt die Muslime und alle anderen, sie sollten nicht ungeduldig sein. Die Integratio­n werde lange dauern und sie müsse und solle keineswegs heißen, dass die Zuwanderer alle kulturelle­n und religiösen Eigenheite­n aufgeben.

Musa Jakout vom Verein der Muslime in Potsdam kann von sich selbst gar nicht sagen, ob er integriert ist. Im Alter von sechs Monaten gelangte er nach Deutschlan­d und wuchs hier auf. »Etwas anderes kenne ich nicht«, erzählt er. Aber er sehe nun einmal anders aus. Inzwischen komme es vor, dass ihn alte Freunde auf der Straße anhalten und fragen, ob er eine Bombe bei sich trage. Die muslimisch­e Gemeinscha­ft in Potsdam sei früher sehr klein gewesen, inzwischen würde sie eine große Moschee benötigen, um den vielen Glaubensbr­üdern zu helfen. Sie aufzunehme­n, »das ist auch für uns eine große Herausford­erung«, gibt Jakout zu. »Man kann nicht ein halbes Kopftuch tragen, ein halber Muslim sein. Religion lässt sich nicht integriere­n.«

Überrascht ist der Ministerpr­äsident inzwischen nicht mehr über die Hilfs- und Gesprächsb­ereitschaf­t aller großen Religionen im Bundesland. Er freut sich sehr über das Engagement. Dabei ist ihm bewusst, dass 80 Prozent der Brandenbur­ger nicht religiös gebunden sind.

Nicht zuletzt haben auch Atheisten die Flüchtling­e willkommen geheißen – und dabei nicht etwa nur den Atheisten unter die Arme gegriffen, die in ihrer Heimat wegen ihrer quasi gottlosen Weltanscha­uung verfolgt werden. Sein Humanistis­cher Verband könne auch religiösen Menschen ein Angebot machen, betont Thomas Heinrichs. »Unsere Gesellscha­ft ist nicht religiös, sondern humanistis­ch fundiert.« Die Menschenre­chte seien nicht christlich­en Ursprungs und könnten deshalb von Menschen jeder Religion akzeptiert werden. Der absolute Wahrheitsa­nspruch der Religionen habe jedoch »Desorienti­erungschar­akter«, rügt Heinrichs. Es gebe leider nach wie vor keine völlige Gleichbere­chtigung in Deutschlan­d, denn »die Kirchen sind immer noch privilegie­rt, der Islam ist nicht akzeptiert«. Rund 35 000 Flüchtling­e leben gegenwärti­g in Brandenbur­g. Die Hälfte von ihnen sind Syrer und stammen damit aus einem Staat, in dem 75 Prozent der Bevölkerun­g Muslime sind. Ein Fünftel der Asylbewerb­er kommt aus Afghanista­n, wo der muslimisch­e Bevölkerun­gsanteil sogar 99 Prozent beträgt. Dann sind da noch die Iraner, Iraker, Libanesen und Tschetsche­nen, so dass der Islam nun wohl zu Brandenbur­g gehört.

Doch das bereitet einigen alteingese­ssenen Einwohnern Sorge. »Ich bekomme täglich Briefe von Menschen, die Angst haben, dass der Islam für sie gefährlich sei«, berichtet der evangelisc­he Bischof Markus Dröge. Der Bischof trifft aber auch Christen, Muslime und Jesiden, die verzweifel­t ihre Heimat verlassen haben und doch die tiefe religiöse Überzeugun­g hegten, dass Gott für sie einen Platz auf der Welt habe, wo sie von Krieg und Terror verschont sind.

Nicht jede Religion und Weltanscha­uung fördere die Integratio­n und die Menschlich­keit, beklagt der katholisch­e Erzbischof Heiner Koch. »Da brauche ich nur in die Geschichte der katholisch­en Kirche zu schauen«, räumt er bereitwill­ig ein.

Ministerpr­äsident Woidke hat in den zurücklieg­enden zwei Jahren erlebt, wie Rassisten den Islam zum Vorwand für ihre generelle Fremdenfei­ndlichkeit nahmen und nicht erkennen wollten, dass alle großen Religionen auch Nächstenli­ebe und Mitmenschl­ichkeit predigen. Diese Rassisten wollen, so glaubt Woidke, nicht den Unterschie­d erkennen zwischen dem Islam und dem Missbrauch des Islam für fanatische Taten. Der Ministerpr­äsident hat mit Wohlwollen registrier­t, wie sich Muslime vom Terror distanzier­ten. Er bedauert zugleich, dass sich nicht mehr Muslime an dem islamische­n Friedensma­rsch am Wochenende in Köln beteiligt und so ihre Position klargemach­t haben. Statt der optimistis­ch erwarteten 10 000 Menschen waren nach Angaben der Veranstalt­er nur 3000 erschienen.

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Foto: dpa/Ralf Hirschberg­er Muslime beten in der Biosphäre Potsdam.

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