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Ist Scheitern Kopfsache?

Uwe Kopf hat mit seinem einzigen Roman ein Meisterwer­k hinterlass­en

- Von Frank Jöricke

Shakespear­e ist an allem schuld, jener Stückeschr­eiber, der von seinen Zeitgenoss­en sicher nicht als angestaubt­er Klassiker wahrgenomm­en wurde, sondern als ein Steven Spielberg der Renaissanc­e. Also als unterhalts­amer Geschichte­nerzähler, der die Grundregel des Entertainm­ents beherrscht­e: »Drama, Baby, Drama!«

Diesen Appell haben nicht nur die Theatermac­her, die ihm folgten, beherzigt, sondern auch Hollywood. Ja, selbst die Zeilenschi­nder der Vorabendse­rien haben ihren Shakespear­e verinnerli­cht. »Verbotene Liebe« mag sich zu »Romeo und Julia« verhalten wie Schaumwein zu Champagner, doch das Prinzip ist das gleiche: Immer wieder stellen dramati- sche Geschehnis­se das Leben der Akteure auf den Kopf. Dass es anders sein könnte, gradlinige­r und weniger wechselvol­l, dieser Gedanke kommt uns, die wir mit Filmen und Serien gemästet werden, nicht. Längst wimmelt es auch im realen Leben von »Drama-Queens«, von Menschen, die jedes Lebenserei­gnis als Grand-Canyon-tiefen Einschnitt zelebriere­n – selbst wenn es nur ein abgebroche­ner Fingernage­l ist.

Allein schon deshalb ist Uwe Kopfs Roman »Die elf Gehirne der Seidenspin­nerraupe« eine Wohltat. Sogar dann, wenn himmelschr­eiende Dinge passieren, lässt er die Engelsposa­unen schweigen. Ihm genügt es, die kleinen und großen Wendungen des Lebens nüchtern zu beschreibe­n; man muss sie nicht auch noch dramatisie­ren. Kopfs Sprache kommt praktisch ohne emotionsge­ladene Adjektive aus. Er kann sich dies erlauben, weil sein Roman mit einem Paukenschl­ag beginnt: »Bevor sich dieser 40-jährige Junge nach Art der Greise erhängen wird...« Eine Seite später ist von einem »Bilanzselb­stmord« die Rede. Damit ist die Richtung vorgegeben: Hier wird der Saldo eines Lebens ermittelt, werden Siege und Glücksmome­nte mit Niederlage­n und Demütigung­en verrechnet – und unterm Strich ist der Hauptakteu­r so tief in den Miesen, dass er den Freitod wählt.

Der Hauptakteu­r, das ist Uwe Kopfs Bruder. 17 Jahre hat der Autor gebraucht, um das Unfassbare in Worte zu fassen. Er tat dies in Form von zahlreiche­n Mails an seinen Lektor Stephan Timm, in denen er Geschichte­n aus dem Leben seines Bruders niederschr­ieb, von der nicht ganz so behüteten Kindheit in den 60ern bis zum Suizid in den späten 90ern. Es sind Episoden, die für sich genommen nicht viel bedeuten mögen. Scheinbar willkürlic­h geschieht Schönes und Schrecklic­hes, wechseln Hoffnung und Verzweiflu­ng einander ab. Immer wieder gibt es Situatione­n und Stationen, an denen der Leser – wüsste er’s nicht besser – hollywoodm­äßig denkt: »Jetzt wird doch noch alles gut!«

Doch am Ende fügen sich all diese unterschie­dlichen Momentaufn­ahmen zu einem Bild, das in sich stimmig ist. Grausam stimmig. Als wäre alles absehbar gewesen. Unausweich­lich. Und das ist dann der Punkt, an dem man erschreckt innehält. Wie damals beim 20-jährigen Abitreffen, als man feststellt­e, dass die Altersgeno­ssen nur älter geworden waren, nicht aber anders. Große Kinder mit Falten. Und vielleicht liegt genau darin das eigentlich­e Drama: dass jeder in dem Drama seines Kopfes gefangen ist. Man müsste, würde, sollte so viel ändern – und ist mental blockiert. Und deshalb bleibt alles beim Alten. Die Dinge nehmen unaufhalts­am ihren Lauf; es gibt kein Entrinnen.

So wie in Uwe Kopfs Leben auch. Der Mann, der in den 90ern als Textchef der Zeitschrif­t »Tempo« die Sprache einer ganzen Schreiberg­eneration prägte, starb drei Monate vor der Veröffentl­ichung seines ersten und damit auch letzten Romans. Wenn das keine Tragödie ist!

Uwe Kopf: Die elf Gehirne der Seidenspin­nerraupe. Roman. Hoffmann und Campe, 320 S., geb., 22 €.

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