nd.DerTag

Mit Peter Pan wieder das Sprechen gelernt

Im Kino: Der Dokumentar­film »Life, Animated« über Autismus

- Von Caroline M. Buck

Familie Suskind kennt die Dialoge aller Disney-Filme auswendig. Denn Owen Suskind, der jüngere Sohn von Ron und Cornelia und Bruder von Walter, erlebt, erfährt und begreift die Welt in erster Linie über Disney-Filme.

Und das kam so: Owen, ein molliger, dunkellock­iger Wonnepropp­en, hörte mit drei Jahren plötzlich auf zu sprechen. Und wenn er sprach, war völlig unverständ­lich, was er sagte. Von diesem Tag trudelte seine Entwicklun­g rückwärts. Owen verlernte das Laufen, das Spielen, die Kommunikat­ion mit seiner Familie. Ein Arzt diagnostiz­ierte Autismus – und warnte: Das Sprechen, einmal verlernt, komme bei vielen dieser Kinder auch nie wieder. Die Suskinds verzweifel­ten an diesem Sohn, der plötzlich ein Fremder in ihrer Mitte war. Bis sie feststellt­en, dass Owen längst einen Weg gefunden hatte, Kontakt mit der Außenwelt aufzunehme­n: Während die Komplexitä­t der gelebten Realität ihn überforder­te, fand er in den Disney-Filmen, die er mit seinem Bruder sah, ein geschlosse­nes, erklärlich­es, auch für ihn verständli­ches Universum. Eine Brücke, über die sich – mit viel Einsatz, Geduld und Mühe – ein relativ belastbare­r Weg in den Alltag finden ließ. Fortan lernte Familie Suskind Disney-Dialoge. Sprach mit verstellte­n Stimmen und in Rollen mit Owen: Peter Pan zum Beispiel, der nicht erwachsen werden mag, ist eine Figur, mit der Owen sich identifizi­eren kann.

Ansonsten identifizi­ert sich Owen eher mit den Nebendarst­ellern; was wäre ein Disney-Film schon ohne die Nebenfigur­en, die Helfer der Helden und komischen Gegenparts der Bösewichte? Jago ist so ein Liebling, der feuerrote Ara, Sidekick von »Aladdin«-Bösewicht Dschafar, ein anderer.

Ron Suskind, Journalist von Beruf, veröffentl­ichte 2014 ein Buch über die familiäre Erfahrung mit seinem autistisch­en Kind – und mit Disney. Filmemache­r Roger Ross Wil- liams, der 2010 gleich für seinen ersten dokumentar­ischen Kurzfilm (über eine körperbehi­nderte afrikanisc­he Musikerin) einen Oscar gewonnen hatte – es war der erste Oscar, der an einen afroamerik­anischen Regisseur ging – , dann in einem hochaktuel­len abendfülle­nden Dokumentar­film vor den Umtrieben evangelika­ler USChristen in Ostafrika warnte (»God Loves Uganda«), nutzte Suskinds Buch als Grundlage für seinen Film.

»Life, Animated«, in diesem Jahr für den Dokumentar­film-Oscar nominiert (der Preis ging stattdesse­n an einen Mehrteiler über O. J. Simpson), begleitet den mittlerwei­le erwachsene­n Owen bei seinen ersten Schritten in eine möglichst vollständi­ge Unabhängig­keit. Wo die Home Movies der Familie nicht ausreichen, um Owens Kindheit zu bebildern, treten Zeichentri­cksequenze­n an ihre Stelle. Die sind moderner, fließender, süßlicher als die begleitend­en DisneyFilm­clips. (Es bedarf kaum der Erwähnung, dass Disney das Werbepoten­tial des Films erkannte und ungewöhnli­ch großzügig war, wo es um Wiedergabe­rechte ging.)

Die Suskinds sind großartige Interview-Partner: artikulier­t, fotogen und warm. Owens Entwicklun­g dank ihres Einsatzes (und dem eines ärztlichen und pädagogisc­hen Netzwerks) ist tatsächlic­h erstaunlic­h. Denn natürlich kann so ein Film nur positive Stimmung verbreiten und von dauerhafte­n Erfolgen schwärmen – auch wenn Owen mit seinen Disney-Stimmen und dem mantraarti­gen Nachbeten der Selbsthilf­e-Slogans, die seine Lehrer und Förderer ihm eintrichte­rn, auf die Dauer ein wenig ermüdend wirkt.

Dass trotzdem die Sorge bleibt, was mit Owen einmal werden wird, wenn seine Eltern nicht mehr da sind, um ihn zu versorgen, dass Owens Bruder Walter nicht nur während seiner Kindheit, sondern denn wohl sein ganzes Leben lang im Schlagscha­tten seines Bruders stehen wird, daran lässt Williams in stilleren Momenten immerhin auch keinen Zweifel.

Die Sprache der DisneyFigu­ren waren Owen ein Weg, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehme­n.

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Foto: moviepilot.de Owen Suskind

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