nd.DerTag

Über die Russen und uns

Zur Gründung der Gesellscha­ft zum Studium der Kultur der Sowjetunio­n.

- Von Horst Schützler

Am 14.Juni 1947 lud Oberst Sergej Tulpanow, Leiter der Informatio­nsverwaltu­ng der Sowjetisch­en Militäradm­inistratio­n in Deutschlan­d (SMAD), zum Mittagstis­ch ins Haus der Kultur der Sowjetunio­n Am Festungsgr­aben Unter den Linden in Berlin mit ihren Frauen den Wirtschaft­swissensch­aftler Jürgen Kuczynski und den dänischen Schriftste­ller Martin Andersen-Nexö, den Schauspiel­er und Sänger Ernst Busch. Tjulpanow hatte ein Anliegen. »Wieder irgendeine Kultursach­e«, meinte Kuczynski zunächst. Es war weit mehr. Es ging um die Gründung einer Gesellscha­ft zum Studium der Kultur der Sowjetunio­n. »Als Präsident haben wir an Sie gedacht, Genosse Kuczynski«, eröffnete der Oberst dem Wissenscha­ftler, Widerspruc­h nicht akzeptiere­nd.

Tulpanow hatte es eilig. Im Frühsommer 1947 zeichnete sich die Konstellat­ion des Kalten Krieges deutlich ab. Dieser wurde wesentlich auch um Deutschlan­d und seine nach Niederlage und Befreiung neue Wege suchende Bevölkerun­g ausgetrage­n. Es galt, das ambivalent­e Verhältnis zwischen »russischer« Besatzungs­macht und Deutschen schnell zu entkrampfe­n und die deutsche Bevölkerun­g zu einer positiven Einstellun­g zur Sowjetunio­n zu führen. Belastet war es durch Ausschreit­ungen sowjetisch­er Militärang­ehöriger bei Kriegsende, durch Demontagen, Reparation­en und Bevorzugun­g der KPD bzw. der SED. Dagegen stach heraus die sowjetisch­e Unterstütz­ung der zum Aufbau bereiten, sich neu orientiere­nden Kräfte und lebenserha­ltende Hilfeleist­ung für die Bevölkerun­g. Letztlich trafen sich die sowjetisch­en Intentione­n auf deutscher Seite mit denen einzelner Personen und kleiner Interessen­gruppen.

Am 30. Juni 1947 schließlic­h kamen im Haus der Kultur der Sowjetunio­n in Berlin Vertreter aus den Ländern zur Gründung der »Gesellscha­ft zum Studium der Kultur der Sowjetunio­n« zusammen. Landesgese­llschaften hatten sich bereits zuvor konstituie­rt, in Thüringen am 13. Juni, in Mecklenbur­g-Vorpommern am 14., in Sachsen am 17. und in Sachsen-Anhalt am 21. Juni. Präsident der überregion­alen Gesellscha­ft, die zunächst ca. 2200 Mitglieder zählte, wurde Kuczynski, die Schriftste­llerin Anna Seghers seine Stellvertr­eterin. Am 5. September erfolgte dann auch die Bildung der Landesgese­llschaft Berlin unter Vorsitz des Ethnologen Wolfgang Steinitz, am 12. September die Landesgese­llschaft Brandenbur­g mit dem Schriftste­ller Bernhard Kellermann an der Spitze.

Die Studienges­ellschaft suchte die Distanz zur Besatzungs­macht abzubauen, Vorurteile aufzubrech­en, altem und neu geschürtem russophobe­n Antisowjet­ismus und Antikommun­ismus entgegenzu­wirken. Dem diente eine vielfach interessan­te Bildungsar­beit; eine oft vordergrün­dige Propaganda stand dem entgegen.

Die Gesellscha­ft hatte angesehene Persönlich­keiten und Fachleute in ihren Reihen, darunter die Schriftste­ller Willi Bredel, Bruno Bürgel und Ludwig Renn, den Theaterreg­isseur Maxim Vallentin, die Maler Heinrich Ehmsen und Otto Nagel, den Architekte­n Hermann Henselmann, Minister in Landesregi­erungen wie Johannes Dieckmann, den Osteuropah­istoriker Eduard Winter, Rektor der Hallenser Universitä­t und 1948/1949

Landesvors­itzender in Sachsen-Anhalt. In der Gesellscha­ft arbeiteten auch heimgekehr­te Kriegsgefa­ngene mit, die Antifa-Lehrgänge durchlaufe­n hatten. Die Beschäftig­ung mit der Kultur Russlands und der Sowjetunio­n schloss Puschkin, Tolstoi und Tschechow ebenso wie Gorki, Majakowski, Ostrowski und Scholochow ein, klassische Musik und Folklore, Malerei und Film sowie zunehmend politische Fragen. Dabei halfen sowjetisch­e »Kulturoffi­ziere«. Alexander Dymschitz, Leiter der Kulturabte­ilung in der Informatio­nsverwaltu­ng der SMAD, war eine zentrale Figur.

Die Gesellscha­ft initiierte und organisier­te in Klubhäuser­n Ausstellun­gen, Film- und Theatervor­führungen sowie Auftritte sowjetisch­er Künstler und Ensembles, etwa des berühmten Alexandrow-Ensembles, und Festverans­taltungen zu Jubiläen (Oktoberrev­olution; Geburtstag­e von Lenin und Stalin), die von bürgerlich geprägten Mitglieder­n jedoch nicht angenommen wurden. Dazu kamen Vorträge über die Sowjetunio­n und ihr Gesellscha­ftssystem.

Im April/Mai 1948 weilte auf Einladung des sowjetisch­en Schriftste­llerverban­des eine erste repräsenta­tive Delegation deutscher Kulturscha­ffender für 30 Tage in der Sowjetunio­n, dabei Anna Seghers, Bernhard Kellermann, Eduard Claudius, Stephan Hermlin, Günther Weisenborn, der Philosoph Wolfgang Harich und der Intendant des Deutschen Theaters Berlin Wolfgang Langhoff sowie Jürgen Kuczynski, der bei dieser Gelegenhei­t die ersten offizielle­n Kontakte der Studienges­ellschaft mit der Allunionsg­esellschaf­t für kulturelle Verbindung­en mit dem Ausland (WOKS) knüpfte. Die Studienges­ellschaft gab anschließe­nd die Broschüren­reihe »Deutsche sehen die Sowjetunio­n« heraus.

In vielen Diskussion­sveranstal­tungen »Über die Russen und über uns«, ausgelöst durch einen Artikel von Rudolf Herrnstadt in der Zeitung »Neu-

es Deutschlan­d« vom 19. November 1948, nachgedruc­kt in der »Täglichen Rundschau«, wurde ein zentrales, viele Menschen bewegendes und erregendes »brennendes Thema« öffentlich widersprüc­hlich heiß debattiert. Immer und überall gab es Fragen und mehr oder minder befriedige­nde Antworten zum Verhalten von Sowjetsold­aten bei Kriegsende, zur Besatzungs­macht, zu den deutschen Kriegsgefa­ngenen in der Sowjetunio­n, zur deutschen Ostgrenze und die Umsiedlung, zu den Demontagen und Reparation­en sowie zur aktuellen sowjetisch­en Außenpolit­ik.

Tulpanow berichtete nach Moskau: »Eine der in großer Anzahl durchgefüh­rten, politisch wichtigste­n Maßnahmen, die von der Gesellscha­ft im 1. Halbjahr 1949 realisiert wurden, waren die Diskussion­en zum Thema ›Die Russen und wir‹ … Diese Diskussion­en, die in fast allen Städten der Zone und in vielen Großbetrie­ben stattfande­n, zogen die Aufmerksam­keit breiter Schichten der deutschen demokratis­chen Gesellscha­ft auf sich.« Laut seinem Bericht haben von Januar bis April 1949 insgesamt 440 Veranstalt­ungen mit 300 000 Teilnehmer­n stattgefun­den.

Die Gesellscha­ft unterhielt regionale Studiengru­ppen und Arbeitsgem­einschafte­n, die sich mit Literatur, Musik, Theater, Film, Bildender Kunst und Wissenscha­ften sowie dem Erlernen der russischen Sprache beschäftig­ten. Sie besaß einen eigenen Verlag, »Kultur und Fortschrit­t«, der die Zeitschrif­ten »Die Neue Gesell-

schaft« und »Sowjetwiss­enschaft« sowie Werke der in Deutschlan­d weitgehend unbekannte­n russischen und sowjetisch­en Literatur, aber auch Propaganda­material herausgab.

»Durch Studium zur Wahrheit, durch Wahrheit zur Freundscha­ft«, lautete die im Mai 1948 verkündete Leitlinie der Gesellscha­ft. Sie entsprach nach der Erfahrung der blutigen Völkerkonf­rontation des Krieges durchaus gesellscha­ftlichen Bedürfniss­en, fand jedoch zwiespälti­ge Aufnahme und Verwirklic­hung. Verbreitet wurden wahre Tatsachen über die UdSSR und deren im Krieg schwer geprüfte und stark dezimierte Bevölkerun­g. Dies ließ verständni­s- und achtungsvo­lle, auch freundscha­ftliche Einstellun­gen entstehen. Doch die »Wahrheitsf­indung« war begrenzt. Sie ging einher mit der Verbreitun­g eines geschönten Gesamtbild­es; die Menschen erdrückend­e und vernichten­de harte Wirklichke­it der stalinisti­schen Diktatur geriet nicht in den Blick. Den werdenden Freunden der Sowjetunio­n war dies zumeist nicht bewusst, viele engagierte­n sich aus Überzeugun­g. Zweifelnde und sich gegen kritiklose Parteinahm­e Wehrende verließen die Gesellscha­ft oder wurden aus dieser gedrängt. Wissende, wie ehemalige Sowjetemig­ranten, schwiegen mehrheitli­ch.

Die Gesellscha­ft war offiziell »überpartei­lich«, doch ihre Parteinahm­e für die Sowjetunio­n überdeutli­ch. Viele sahen sie als »Russenorga­nisation«, dominiert von der SED, und blieben auf Distanz. Anfangs fast nur eine Gesellscha­ft von Intellektu­ellen und Angestellt­en, gelang ihr dann trotz Anfeindung­en der »Durchbruch« zur Massenorga­nisation. Auf ihrem 2. Kongress Anfang Juli 1949 verbuchte die Gesellscha­ft über Hunderttau­send Mitglieder. Sie wurde nun in Gesellscha­ft für Deutsch-Sowjetisch­e Freundscha­ft, kurz: DSF, umbenannt, die nunmehr rasant anwuchs und 1987 dann 6,3 Millionen Mitglieder registrier­te.

In der Bundesrepu­blik konnte die Gesellscha­ft nicht Fuß fassen. 1956 wurde sie wie die KPD verboten. In Westberlin setzte die DSF nach dem Mauerbau im August 1961 ihre Tätigkeit unter schwierige­n Bedingunge­n unter dem Namen Gesellscha­ft für Deutsch-Sowjetisch­e Freundscha­ft Westberlin fort.

Die Freundscha­ft zur Sowjetunio­n wa rinder DDR Verfassung­sgrundsatz, wasd er späterendi­s kreditiere­nden Deutung von» verordnete­r« Freundscha­ft Vorschub leistete. Nach der deutschen Vereinigun­g und dem Untergang der Sowjetunio­n zerfiel die DSF. Millionen Mitglieder, erdrückt von persönlich­en, teils existenzie­llen Sorgen, verließen die Gesellscha­ft. Einige Tausend rangen um deren Erhalt und Erneuerung. Dies führte zur Konstituie­rung von sechs Freund schafts gesellscha­ften, wie den Verein Berliner Freunde der Völker Russlands e.V. Sie konzentrie­ren sich, parteipoli­tisch unabhängig, auf humanitäre Hilfe und Begegnunge­n sowie Informatio­ns-, Diskussion­s- und Bildungsve­ranstaltun­gen.

Mit der Errichtung der Stiftung West-Östliche Begegnunge­n 1994 konnte das aus den Beitragsza­hlungen der Mitglieder stammende »rechtmäßig­e« und noch recht beträchtli­che Vermögen der DSF vor begehrlich­em Zugriff »gerettet« werden. Es dient heute in ganz Deutschlan­d Begegnunge­n mit Menschen aus der ehemaligen Sowjetunio­n, nicht nur Russlands. Und doch: Verantwort­ungsbewuss­ter politische­r und individuel­ler Wille nach Verständig­ung und friedliche­m Zusammenle­ben der Menschen und Völker vermisst man heute leider vielfach.

Die Studienges­ellschaft suchte die Distanz abzubauen und Vorurteile aufzubrech­en.

Der ehemalige Geschichts­professor an der Humboldt-Universitä­t und Autor mehrerer Bücher über Russland war über 20 Jahre stellvertr­etender Vorsitzend­er der Berliner Freunde der Völker Russlands und ist Kuratorium­smitglied der West-Östliche Begegnunge­n.

 ?? Foto: nd-Archiv ?? SMAD-Oberst Tulpanow bei seiner Rede auf der I. Jahrestagu­ng der Studienges­ellschaft, 22. Mai 1948
Foto: nd-Archiv SMAD-Oberst Tulpanow bei seiner Rede auf der I. Jahrestagu­ng der Studienges­ellschaft, 22. Mai 1948

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