Von Schröder lernen
Altkanzler bei SPD-Wahlparteitag / Delegierte gegen Abschiebungen nach Afghanistan
Berlin. Der Rückstand ist riesig, die Zeit knapp, die Herausforderung gewaltig: Mit fast zehn Minuten Applaus haben die Sozialdemokraten ihren Kandidaten Martin Schulz in den Endspurt des Bundestags-Wahlkampfs geschickt. Die SPD hat auf ihrem Parteitag in Dortmund am Sonntag einstimmig ihr Programm für die Wahl im September beschlossen. Es gab nur eine Enthaltung. Zu den wichtigsten Punkten zählt die Forderung nach Entlastungen vor allem für mittlere Einkommen und höheren Steuern für Spitzenverdiener. Kitas sollen gebührenfrei, die Ehe soll für Schwule und Lesben geöffnet werden.
Etwas Mut machen sollte der Altkanzler und einst erfolgreiche Wahlkämpfer Gerhard Schröder. »Nichts ist entschieden«, sagte er zu Beginn des Parteitags. »Es ist noch viel Zeit, um die Stimmung zu drehen.« Nötig seien Disziplin, Geschlossenheit, aber auch Selbstbewusstsein.
Schulz attackierte die Union. Er warf ihr vor, sich vor inhaltlichen Aussagen zu drücken und damit in Kauf zu nehmen, dass weniger Bürger zur Wahl gingen. Zudem bezeichnete der SPD-Chef die AfD als »NPD light«. Er wolle verhindern, dass die rechte Partei im September in den Bundestag einzieht.
Eigentlich war der Parteitag hauptsächlich als Jubelveranstaltung für Schulz geplant. Doch in der kurz gehaltenen Programmdebatte am Nachmittag sprachen sich die Degelierten für einen vorübergehenden kompletten Stopp von Abschiebungen nach Afghanistan aus. Die Antragskommission hatte sich mit einer allgemeineren Formulierung – ein Nein zu Abschiebungen in Kriegsgebiete, aber ohne ausdrückliche Nennung Afghanistans – nicht durchgesetzt. Nach dem Ende des Parteitags sagte Schulz der ARD, der Abschiebestopp gelte »auf keinen Fall« für Kriminelle und Gefährder.
Kurz vor dem Dortmunder Bundesparteitag hat die SPD-Spitze den Streit um die Vermögensteuer entschärft. Die Partei setzt im Wahlkampf auf zurückhaltende Umverteilungsforderungen. Obwohl er sie schon lange nicht mehr gesungen hat, kennt Gerhard Schröder noch die Titel von alten linken Kampfliedern. Der Altkanzler beendet seine Rede zur Eröffnung des SPDBundesparteitags in der Dortmunder Westfalenhalle mit Worten, die an die Wahlkampfhymne des chilenischen Sozialisten Salvador Allende in den 70er Jahren erinnern sollen: »Auf in den Kampf. Venceremos!« Schröder ist am Sonntagnachmittag als Mutmacher für seine kriselnden Genossen ins Ruhrgebiet gekommen. Er erinnert auf dem Podium an seinen Wahlkampf von 2005, als die SPD ebenso wie heute in den Umfragen weit hinter der Union zurücklag, aber noch aufholen konnte. Letztlich verloren die Sozialdemokraten die Bundestagswahl nur knapp.
Doch die Ausgangslage ist zwölf Jahre später völlig anders. Schröder konnte sich noch mit seiner Regierungspolitik und seinem Nein zu einer direkten deutschen Beteiligung am Irak-Krieg profilieren. Der aktuelle SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz muss sich hingegen als He- rausforderer von CDU-Kanzlerin Angela Merkel abmühen. Ein Gewinnerthema hat Schulz bilang noch nicht gefunden. Etwas beleidigt ist der SPD-Chef, weil er und seine Konzepte von Merkel bislang weitgehend ignoriert worden sind. »Sie bezieht keine konkrete Position. In Berliner Kreisen nennt man das vielleicht asymmetrische Demobilisierung. Ich nenne das einen Anschlag auf die Demokratie«, sagt Schulz.
Immerhin kann er aber auf eine große Unterstützung seiner Partei zählen. Mehr als 6000 Gäste sind nach Dortmund gekommen, um die Rede des SPD-Vorsitzenden zu hören. Im Publikum werden rote Parteifahnen geschwenkt und Schilder mit dem Konterfei des Kanzlerkandidaten hochgehalten. Während seiner Rede gelingt es Schulz allerdings nur selten, große Begeisterung bei seinen Zuhörern zu wecken. Den meisten Applaus gibt es, wenn Schulz sich über Diktatoren empört oder die negativen Folgen der Globalisierung anprangert. Den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ruft Schulz dazu auf, die inhaftierten Journalisten aus dem Gefängnis zu entlassen. Kein Verständnis hat er zudem für die Börsenspekulation auf Nahrungsmittel. »Der Hunger der einen ist der Profit der anderen«, ruft der SPD-Chef in die Halle.
Doch Schulz streichelt nicht nur die Seele seiner linken Genossen, als er etwa die Ehe für alle zur Koalitionsbedingung erklärt. Das Programm, das die rund 600 Delegierten an diesem Tag beschließen, enthält zurückhaltendere Umverteilungsforderungen als das SPD-Wahlprogramm von 2013. Die von linken Sozialdemokraten und dem DGB geforderte Vermögensteuer räumte der Parteivorstand bei einer Sitzung am Samstag ab. Die SPD-Spitze beschloss, eine Kommission einsetzen zu wollen, um »die Machbarkeit zur Wiedererhebung der Vermögensteuer zu prüfen«. Die Mehrheit der sozialdemokratischen Führung sieht die Steuer nicht als sonderlich erstrebenswert an, weil deren Wiederbelebung zu Auseinandersetzungen mit Unter- nehmensvertretern führen würde. Die Vermögensteuer ist seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor etwa 22 Jahren ausgesetzt worden.
In seinem Wahlkampf setzt Schulz vor allem auf Stimmen aus den Mittelschichten. Er will diese Menschen steuerlich entlasten. Für Spitzenverdiener sind dagegen leichte Steuererhöhungen vorgesehen. »Ich trete an mit einem Programm für Leistungsgerechtigkeit«, erklärt Schulz. Er verspricht eine »gebührenfreie Bildung von der Kita bis zur Uni«. »Dazu gehört auch der Meisterbrief«, ergänzt Schulz, der selber kein Abitur hat.
Krankenversicherungsbeiträge will er »wieder zu gleichen Anteilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern« zahlen lassen. Bei der Rente werde die SPD das Rentenniveau stabilisieren, aber auch dafür sorgen, »dass die jüngere Generation nicht über Gebühr belastet wird«.
Mehr Geld soll nach dem Willen der SPD künftig unter anderem in Infrastruktur, Bildung, die Polizei und in die Förderung von Unternehmensgründungen fließen. Die Bundeswehr soll weiter aufgerüstet werden. Dafür will Schulz mehrere Milliarden Euro bereitstellen. Die von den USA im Rahmen der NATO geforderte Erhöhung des Wehretats auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung lehnt der SPD-Chef hingegen ab.
Nachdem er seine 80-minütige Rede beendet hat, geht Schulz zielstrebig zu den Ehrengästen in der ersten Reihe, wo Schröder neben dem früheren Bundesminister und SPD-Chef Franz Müntefering sitzt. Auch die sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer Reiner Hoffmann (DGB) und Michael Vassiliadis (IG BCE) haben hier Platz genommen. Schulz und Schröder klatschen sich ab und umarmen sich. Der Jubel der Delegierten dauert zehn Minuten an.
Ob der Parteitag Schulz dabei helfen wird, die politische Stimmung zu drehen, ist fraglich. Die Fernsehbilder von der Verbrüderung mit dem Kanzler der neoliberalen Agenda 2010 dürften bei linken potenziellen Unterstützern der SPD nicht sonderlich gut angekommen sein.
Die SPD verabschiedet in Dortmund ihr Programm zur Bundestagswahl und übt sich in Selbstmotivationskünsten. Die vom linken Parteiflügel und den Jusos geforderte Vermögensteuer wird in einer Arbeitsgruppe versenkt. Mehr als 6000 Gäste sind nach Dortmund gekommen, um die Rede des SPD-Vorsitzenden zu hören. Im Publikum werden rote Parteifahnen geschwenkt und Schilder mit dem Konterfei des Kanzlerkandidaten hochgehalten.