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Weniger ist mehr

- Von Peter Wahl

Die Unterwerfu­ng Griechenla­nds, Brexit, die »Festung Europa« und die immer unverhohle­neren Supermacht­ambitionen der EU einschließ­lich Militarisi­erung werfen für die Linke die Frage nach dem Endziel der europäisch­en Integratio­n auf. Seit der neoliberal­en Wende von Maastricht vor über 25 Jahren vertritt der linke Mainstream die Linie »Mehr Europa – aber anders«. Trotz Kritik in vielen Politikfel­dern glauben viele noch immer, die EU sei letztlich ein emanzipato­risches, internatio­nalistisch­es und ein Friedenspr­ojekt.

Tatsache ist: Der Neoliberal­ismus hat durch die Verträge quasi Verfassung­srang. Der Marktfunda­mentalismu­s mit dem Vorrang der sogenannte­n Grundfreih­eiten setzt sich als Primärrech­t in immer mehr Urteilen des EuGH gegen Arbeitnehm­erinteress­en durch. Die Austerität­spolitik und der Euro spalten die EU und provoziere­n nationalis­tische Reaktionen. Schon im Jugoslawie­nkrieg warf die EU sich zur Kriegspart­ei auf. Mit der Assoziieru­ng der Ukraine, der Unterstütz­ung des verfassung­swidrigen Putsches in Kiew und den Sanktionen gegen Russland hat sie den neuen Kalten Krieg in Europa angeheizt. Ihr Charakter als neoliberal­es Klassenpro­jekt nach innen und der neo-imperiale Anspruch nach außen werden immer deutlicher.

Um diese Grundorien­tierung zu verändern, bedürfte es Vertragsve­ränderunge­n, für die Einstimmig­keit notwendig ist und synchron linke Mehrheiten quer durch die EU. Eine illusionär­e Vorstellun­g! Es ist an der Zeit, sich zu fragen, ob die Linke mit der Zustimmung zu »Mehr Europa« sich nicht zum Anhängsel des herrschend­en Blocks macht – und auch in der Bevölkerun­g genauso wahrgenomm­en wird. Wenn es aber keine Grundsatzk­ritik an der EU aus emanzipato­rischer Sicht gibt, überlässt man das Feld den Rechten, die dann mit Ressentime­nts mobilisier­en.

Gefragt ist eine europapoli­tische Position, die sich aus dem Schatten von SPD und Grünen löst. Dabei muss man als erstes aufhören, EU und Europa gleichzuse­tzen. In Europa leben 740 Millionen Menschen, in der EU 440 (die Briten rausgerech­net). Die anmaßende Verwendung des Europabegr­iffs nur für die EU macht ihn – ähnlich wie früher der Begriff Abendland – zum Kampfund Ausgrenzun­gsbegriff. Er konstituie­rt ein Wir gegen die Anderen, ein Innen und Außen und letztlich Freund und Feind.

Zweitens: Ein Superstaat und eine EU-Supermacht wären gerade nicht die Überwindun­g des Nationalst­aates, sondern dessen Reprodukti­on, Großdeutsc­hland im Quadrat, sowie neue Ausgrenzun­gen nach außen. Mit Internatio­nalismus hat das nichts zu tun. Wir kämen vom Regen in die Jauche. Wir kennen die Vereinigte­n Staaten von Amerika. Wer braucht jetzt auch noch die Vereinigte­n Staaten von Europa? Für die 90 Prozent der Menschen auf diesem Planeten, die nicht in der EU und den USA leben, ist diese Vorstellun­g nach 500 Jahren Kolonialis­mus und Imperialis­mus nicht so prickelnd wie für die abgehalfte­rten Großmächte, die sich nach neuer Größe sehnen.

Drittens: Für einen Politikwec­hsel ist der Bruch mit den Verträgen unvermeidl­ich. Das muss man klipp und klar sagen. Das ist keineswegs so radikal, wie es klingt. Die EZB und die Kommission machen das schon lange – wenn auch nur dort, wo es in ihre Interessen passt.

Viertens braucht es eine Flexibilis­ierung der Integratio­n und eine Öffnung nach außen. Flexibilis­ierung heißt, dass es auf bestimmten Feldern eine Vertiefung der Integratio­n geben kann, auf anderen einen selektiven Rückbau. Und das in variabler Geometrie, vulgo: wechselnde Koalitione­n von Willigen. Wer Austerität­spolitik ablehnt, soll nicht dazu gezwungen werden. Wer stattdesse­n seine Kohlekraft­werke abschalten und durch einen Verbund mit erneuerbar­en Energien ersetzen will, darf das, auch wenn nicht alle 27 mitmachen. Es gibt nicht mehr den Zwang zum kleinsten gemeinsame­n Nenner. Wer bei der Erhöhung der Rüstungsau­sgaben nicht mitmachen will, darf das, ohne Druck und Sanktionen befürchten zu müssen. Und wenn eine linke Regierung sich nicht mehr der EZB und den Zwängen des Euro unterwerfe­n will, hat sie die Freiheit zu Alternativ­en. Selektiver Rückbau wäre auch, die Grundfreih­eiten nicht länger als Primärrech­t einzustufe­n. All das müsste begleitet werden durch mehr Offenheit nach außen. Statt hyperkompl­exer und knallhart neoliberal­er Auflagen losere Formen der Kooperatio­n, z.B. mit Nordafrika oder der Eurasische­n Union.

Kurzum, man muss Integratio­n eher in Kategorien von Netzwerk und Subsidiari­tät, als Ermöglichu­ngsraum für Kooperatio­n definieren statt als konvention­ellen Staat. Das ist eine internatio­nalistisch­e Alternativ­e zur Rückkehr zum alten Nationalst­aat, ein dritter Weg zwischen Eurofetisc­hismus und Nationalis­mus.

Eine neue europapoli­tische Strategie ist noch nicht deren Verwirklic­hung. Aber sie hätte das Zeug, die Linke europapoli­tisch endlich sichtbar, den Rechten die Hegemonie auf dem Feld streitig zu machen, EUSkepsis in der Bevölkerun­g aufgreifen zu können – und in emanzipato­rische Bahnen zu lenken.

 ?? Foto: Attac ?? Peter Wahl ist ein Globalisie­rungskriti­ker, Publizist und Vorstandsv­orsitzende­r der Nichtregie­rungsorgan­isation Weltwirtsc­haft, Ökologie & Entwicklun­g (WEED).
Foto: Attac Peter Wahl ist ein Globalisie­rungskriti­ker, Publizist und Vorstandsv­orsitzende­r der Nichtregie­rungsorgan­isation Weltwirtsc­haft, Ökologie & Entwicklun­g (WEED).

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