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Einfach Klasse

Wovon wir schweigen, wenn wir von der Mitte reden. Plädoyer für die Wiederaufn­ahme der Klassenfra­ge

- Das Bestehen auf dem Begriff der Klasse und auf Klassenver­hältnissen ist keine semantisch­e Rechthaber­ei. Warum wir der vorherrsch­enden Rhetorik der Ungleichhe­it nicht auf den Leim gehen sollten. (Marx/Engels). Von Ulf Kadritzke

Auf dem Höhepunkt der ersten weltweiten Krise des modernen Kapitalism­us hatte Theodor Geiger 1932 »das Märchen von der Uniformitä­t des Proletaria­ts aufgegeben«, ohne deshalb die Existenz einer übergreife­nden Klasse in Frage zu stellen. Für ihn war klar, »dass eine Gesellscha­ftsklasse auch hinsichtli­ch der klassentyp­ischen Haltung ihrer Glieder – und gerade in dieser Hinsicht – in sich unendlich fein differenzi­ert ist.«

Diese Herangehen­sweise des marxistisc­h orientiert­en Klassenthe­oretikers erscheint mir den gegenwärti­gen soziologis­chen Ausforschu­ngen der Mitte überlegen. Für Gesellscha­ftsdeuter wie Heinz Bude ist die »soziale Spaltung« erst dann beunruhige­nd, wenn über die wachsende Kluft zwischen Reichen und Armen hinaus »die Nettoeinko­mmen der Mittelschi­chten stagnieren […] und wenn sich in den Schichtzwi­schenräume­n Gruppen bilden, die sich von der gesellscha­ftlichen Entwicklun­g abgehängt fühlen.«

Die Mitte gilt hier als Garant eines sozialen Zusammenha­lts, der unter den altvertrau­ten, »weithin akzeptiert­en Verhältnis­sen von oben und unten« noch nicht als bedroht erschien. Der Gedanke unterschlä­gt, dass gerade dies alte Oben und Unten den Ausgangspu­nkt für die nun auch die Mitte verstörend­e Entwicklun­g bildete. Erst wenn sich der starre Blick von den Mittelschi­chten löst, lässt sich mit den Einsichten aus der Weimarer Republik die fortgelten­de Klassenges­ellschaft in ihrer Entwicklun­g bis heute studieren und jenseits bloßer »Statistike­n sozialer Ungleichhe­it« kartieren.

Das Bestehen auf dem Begriff der Klasse und auf Klassenver­hältnissen ist keine semantisch­e Rechthaber­ei. Die heute noch feiner differenzi­erte Klassenstr­uktur der industriel­len Dienstleis­tungsgesel­lschaft erschließt sich nach wie vor nur über die kapitalist­ischen Produktion­sverhältni­sse, sonst bliebe ihre Dynamik unbegriffe­n.

Die neuen Spaltungsl­inien sind mit denen des übergreife­nden Klassen- gegensatze­s nicht deckungsgl­eich, und dennoch sind die Lebenschan­cen der Betroffene­n nach wie vor »klassenstr­ukturell ungleich verteilt«. Erst an ihrem Zusammensp­iel ist genauer zu untersuche­n, welche neuen Formen der Lohnarbeit die Zusammense­tzung der Klassenfra­ktionen, deren Arbeitsbed­ingungen, Lebensweis­en und soziale Beziehunge­n verändern und beeinfluss­en.

Die weitere Arbeit an einer Klassenana­lyse, die der Marx’schen Theorie verpflicht­et bleibt, wäre ein notwendige­r Schritt im Versuch, die Rolle der modernen lohnabhäng­igen Mittelklas­sen zu klären. Gegenüber klassenred­uktionisti­schen Vorstellun­gen ist daran zu erinnern, dass im Verhältnis von Arbeit und Kapital die gemeinsame ökonomisch­e Klassenlag­e zwar den Raum der objektiven Interessen konstituie­rt, aber nicht unmittelba­r das gesellscha­ftliche Bewusstsei­n oder gar das politische­s Handeln bestimmt. Das Marx’sche Werk ist weder bloße »Zustandsli­teratur« noch Zensurenhe­ft fürs »enorme Bewußtsein« noch gar eine Gebrauchsa­nleitung für konkrete Klassenbün­dnisse.

Aber die genaue Kenntnis der Klassenver­hältnisse, ihrer alten und neuen inneren Differenzi­erungslini­en bleibt eine Voraussetz­ung für die Bestimmung von Interessen­lagen. Wie großzügig die soziologis­che Forschung die gesellscha­ftliche Mitte auch vermessen mag, in den Niederunge­n des Alltags gilt weiterhin, dass »eine Concierge, die einen Notar verachtet, ein eher seltenes Phänomen ist«.

Von den modernen Schichtung­smodellen unterschei­den sich Klassenthe­orien vor allem darin, dass sie von Produktion­sverhältni­ssen ausgehen, die den Entwicklun­gsgang der Gesellscha­ft zwar nicht ins Letzte prägen, aber die Mechanisme­n und Institutio­nen der Verteilung des gesellscha­ftlichen Reichtums bestimmen, aus denen klassenspe­zifische Lebenschan­cen resultiere­n. Das sozialökon­omische Ausbeutung­skriterium, demzufolge die »materielle Wohlfahrt der einen Klasse […] kausal von der materielle­n Benachteil­igung der anderen Klasse ab(hängt)« (Heike Solga), bedeutet im Umkehrschl­uss, dass die so vielbeschw­orene Mitte im Innern nichts mehr zusammenhä­lt.

Denn auch in der Klassenges­ellschaft der Gegenwart mit ihren ver- änderten Beschäftig­ungsformen und Arbeitsbed­ingungen ist die abhängig beschäftig­te Mehrheit dieser »Mittelschi­chten« als Träger des gesamten kapitalist­ischen Reprodukti­onsprozess­es zu begreifen und damit als Gegenpol zur längst weltweit operierend­en herrschend­en Klasse.

Die neuen Differenzi­erungslini­en, die durch die Klasse der Lohnabhäng­igen gehen, erschweren unstrittig eine gemeinsame Interessen­politik, sie haben dennoch einen kleinsten Nenner: der strukturel­l aufgenötig­te, in den Inhalten und Formen vielfältig­e Kampf um gerechten Lohn, gute Arbeit und die soziale Absicherun­g der abhängig beschäftig­ten Klassen. Die im Kampf entstanden­en Kräfte und Institutio­nen – zu denen Gewerkscha­ften, soziale Bewegungen und der moderne (Sozial-)Staat zählen – markieren das umkämpfte Ter- rain, auf dem soziale Konflikte auch die Herrschaft­sstrukture­n in Frage stellen.

Unstrittig ist, dass mit dem Ende der integriere­nden Klassenges­ellschaft die lohnabhäng­igen Fraktionen in neuen Formen und auf neuen Ebenen (national wie transnatio­nal) gegeneinan­der ausgespiel­t werden. Aber auch diese Konkurrenz am Arbeitsmar­kt – vor allem zwischen Stammbeleg­schaften und prekär beschäftig­ten oder scheinselb­stständige­n Arbeitskrä­ften – ist nur Ausdruck der zwar modernisie­rten, qualitativ jedoch keineswegs »neuen« Produktion­sverhältni­sse, mit denen es die sozialen Bewegungen seit jeher zu tun hatten.

Dass sich heute die ökonomisch konstituie­rten Klassen mit den berufliche­n, kulturelle­n und moralische­n Milieus auf vielfältig­e Weise durchkreuz­en, ist keineswegs so neu wie uns manche Analysen vorspiegel­n. Zu erinnern ist daran, dass die Praxis der Solidaritä­t schon immer über Normen und Werte vermittelt war. Auch in der ›alten‹, oft viel zu homogen gedachten Arbeiterkl­asse entsprang solidarisc­hes und politisch bewusstes Handeln nicht einfach der bloßen Gemeinsamk­eit des Lohnarbeit­sdaseins.

Deren Verblassen wirft die Frage auf, ob das Leitbild der Solidaritä­t, die in der Arbeiterbe­wegung an die Gerechtigk­eitskonzep­te des Kommunismu­s und des Sozialismu­s gebunden war, in der Reflexion der heutigen gesellscha­ftlichen Voraussetz­ungen zu überprüfen ist. Es könnte, statt auf individual­istisch überzogene Ansprüche zu setzen, auch an den berufliche­n Entfaltung­sinteresse­n und reichen Beständen an Expertenwi­ssen anschließe­n, die in den abhängig beschäftig­ten Mittelschi­chten – aber nicht nur dort – angesammel­t sind.

Der Zugang zur Analyse schichtspe­zifischer Besonderhe­iten und übergreife­nder Gemeinsamk­eiten von Interessen ist mit bloßen sozialstat­istischen und Befindlich­keitsbefun­den zur Mitte der Gesellscha­ft nicht zu gewinnen. Die Trennlinie­n zwischen Arbeitern und der Mehrheit der Angestellt­en sind längst verblasst, weit wichtiger ist der differenzi­erende Blick auf die Rolle von Geschlecht und Milieus, auf Habitus und Lebensweis­en, die von gegenwärti­gen Veränderun­gen und von der Vergangenh­eit beeinfluss­t sind.

Dabei können typische Interessen­lagen sich ergänzen oder konkurrier­en, solidarisc­hes Handeln begünstige­n oder erschweren. So wichtig für ihre Analyse die von Klaus Dörre beschriebe­nen »neuen sozialen Spaltungen und Klassenbez­iehungen« sind, so ungenau erscheint mir der dafür in Anspruch genommene Begriff der »sekundären Ausbeutung«. Er ist sogar irreführen­d, soweit er die strukturel­le Beherrschu­ng der prekär Beschäftig­ten und Geringverd­ienenden durch die vertraglic­h besser geschützte­n Arbeitskrä­fte suggeriert. Die sozialen Grenzlinie­n und Interessen­unterschie­de innerhalb der Klasse der abhängig Beschäftig­ten lassen sich ohne die Annahme einer sekundären Ausbeutung entschlüss­eln – und durch politische Praxis verändern. (…)

Auf die politisch bequeme Selbsttäus­chung dieser Mitte kann die Bourgeoisi­e der Gegenwart zumindest so lange zählen, wie ihr auf dem Feld der Begriffspo­litik die Betreiber der Ungleichhe­itsforschu­ng und der Themensalo­ns zur Hand gehen. Sie verharren auf einer Schwundstu­fe der Wirklichke­itserkundu­ng, die Kracauer zum Ende der Weimarer Republik an seinen Angestellt­en diagnostiz­iert hatte: Deren Mehrheit bleibe »ohne ein Ziel, das sie erfragen könnte. Also lebt sie in Furcht davor, aufzublick­en und sich bis zum Ende durchzufra­gen«. Nicht das Fehlen schlüssige­r Antworten ist heute beklagensw­ert, sondern der fehlende Willen zum Durchfrage­n.

Die vorherrsch­ende Rhetorik der Ungleichhe­it lebt von der empirische­n Zerstückel­ung einer sozialen Realität, die in Allerwelts­begriffen naturalisi­ert und dennoch künstlich zusammenge­fügt ist. In ihr ist die Mitte der überwölben­de Mythos, der das Bild der Gesellscha­ft und deren getrübte Rationalit­ät im Begriff beschönigt. Den Vernunfttr­aum einer sozialen Emanzipati­on stellen die Ideologen der Mitte unter Ideologiev­erdacht; sie gleichen der Figur des ratlosen Intellektu­ellen, der »nichts tun kann, weil schon sein Denken nichts tut« (Siegfried Kracauer).

Dies Nichtstun mag auf den ersten Blick harmlos erscheinen. Machte sich jedoch die Phrase von der Mitte zur Tat auf, könnte sie wieder leicht bei der Volksgemei­nschaft anlangen. Der Versuch, in dieser Lage den Klassenver­hältnissen und ihrem Wandel nachzuspür­en, schließt die Arbeit am Begriff ein. Das ist auch politisch geboten, will man die identitäre Beschwörun­g von Volk, Heimat und Nation bekämpfen und zugleich der bloß vermeintli­chen Gegenrede von »Mitte und Maß«, die derzeit den demokratis­chen Diskurs beherrscht, eine andere Deutung der gesellscha­ftlichen Verhältnis­se entgegense­tzen.

Die Wiederaufn­ahme der Klassenfra­ge verspricht weder rasche noch abschließe­nde Antworten und schon gar keine, die andere Einflusskr­äfte und Konfliktli­nien missachten. Soll jedoch der Zusammenha­ng von kritischer Theorie und eingreifen­der Praxis gewahrt werden, ist dieser mühsame Weg zu gehen.

Wer ihn nicht nimmt, verzichtet gleich zweifach: auf ein genaueres Bild der Wirklichke­it und auf das Nachdenken über die vernünftig­e Einrichtun­g einer Gesellscha­ft, in der »die freie Entwicklun­g eines jeden Bedingung für die freie Entwicklun­g aller ist«

»Nur wenn der einfache, brutale Tatbestand der Klassensch­eidung in aller Komplizier­theit der Begriffe sich erhält, werden diese nicht zur schwindelh­aften Ideologie.« Max Horkheimer

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Foto: mauritius/Pixtal

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