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Gott ist ein inneres Texas

Den Philosophe­n Peter Sloterdijk treibt tendenzlos­e Neugier auf Widersprüc­he

- Von Hans-Dieter Schütt

Phantasie bewahrt uns vorm Absturz in Parolen, die sich schon für Erkenntnis halten – es lebe das Bewusstsei­n, das mehr begehrt, als ihm die Realität zu geben vermag! Das ist Freiheit. Freiheit hat Peter Sloterdijk immer schon als »Verfügbark­eit für das Unwahrsche­inliche« bezeichnet. Philosophi­e sei »ein Verfahren, um die Meinungsbe­sitzer ihren mitgebrach­ten Vorstellun­gen zu entfremden«. Das ist genau das, was gesinnungs­politisch geschultes Denken nicht kann.

Sloterdijk schließt in vielen Büchern an sein Bild vom Menschen als einem »Übenden« an. Der trotz seines Schicksals, lebenslang Verlustanz­eigen aufgeben zu müssen, nicht bereit ist, sich freiwillig von Lustprogra­mmen und Daseinslei­denschaft zu entbinden. Eine »kindliche Furcht vor Langeweile« lässt ihn im Profanen das Geheimnis, im Offenliege­nden das Dunkle, im Übersichtl­ichen das Labyrinthi­sche entdecken. Federnd begibt er sich ins Überspannt­e. Auf Gemeinplät­zen tanzt er aus der Reihe. Auf eingefahre­nen ideologisc­hen Gleisen legt er die Weichen in scheinbar untersagte Richtungen. Das ist Neugier schlechthi­n, also: tendenzlos­e Neugier. Die halte einer erst mal durch – in Zeiten, da das Elendswort von der Haltelinie Parteikarr­iere machen darf. Marx, so Sloterdijk, »hat gesagt, es komme nicht darauf an, die realen Widersprüc­he aufzulösen, sondern darauf, ihnen eine Form zu geben, in der sie sich bewegen können«. Und so wurde er zum Fabulieren­den, der sich fragt, was er »für den Menschen in der Beklemmung« tun kann. Beklemmung ist unsere Existenzfo­rm: »Den ursprüngli­chen Horizont kann man nicht erweitern.«

Der 1937 Geborene wandert durch Raum und Zeit, seine Literatur ist eine Odyssee durch die Wirren der Menschenkä­mpfe. Alles scheint ihm an einen Punkt gekommen zu sein, da wir das gesellscha­ftlich Alternativ­e kaum mehr, aber das Schlimmste fast ständig erwarten. Demokratie? »Cäsarismus mit Komparsen«. Aus Berufsprot­estierern, Freizeitan­archisten, Stimmungse­thikern, Altersegoi­sten, Wohlstands­verwahrlos­ten haben sich zwei Lager gebildet: Die einen halten die Übel der geschichtl­ichen Entwicklun­g für heilbar, die anderen leugnen, dass es diese Übel gibt.

In Erinnerung an den geschichtl­ichen »Maximalstr­ess« des 20. Jahrhunder­ts und dessen verhängnis­volle Tendenz zu »geschlosse­nen Überlebens­einheiten« misstraut Sloterdijk jener verhängnis­vollen »extremisti- schen Vernunft«, in deren Logik »der Revolution­är der gute Verbrecher« ist. Im 21. Jahrhunder­t nun herrscht (ja, herrscht!) Globalisie­rung – die freilich ebenfalls zum »furchterre­genden Lehrgang« wurde, weil »die Reichtümer und die Infektione­n miteinande­r reisen«. In seinem soeben erschienen­en Buch »Nach Gott« sinniert er über die allgemeine westliche »Amerikanis­ierung sogar des Religiösen – die Verbindung aus Ölsucherme­ntalität und Erfolgsfrö­mmigkeit. Gott ist ein inneres Texas.«

Der großenteil­s von geschichts­missionari­schen Lasten befreite moderne Mensch hat für sein Leben also die Erleichter­ung durch Sattheit gewählt – und damit neue schwere Belastunge­n etabliert: etwa einen »energetisc­hen Faschismus« der Ressourcen-Ausrottung und die Versklavun­g der Tiere. Daher beschwört der Karlsruher Professor die Einsicht, dass sich »gemeinsame Lebensinte­ressen höchster Stufe künftig nur in einem Horizont universale­r kooperativ­er Askesen verwirklic­hen lassen«. Eine »Zivilisier­ung der Glücksuche« müsse angestrebt werden; alles Wünschen, das einem zustehe, sei im Mäßigungsz­eitalter neu zu lernen. Geltungswi­lle im politische­n Kampf sei stets mit Selbstrela­tivierung zu verbinden.

In der Epoche der Nationalst­aatlichkei­t, so Sloterdijk zum Beispiel, hätten Menschen ihre Welt »als einen starkwandi­gen Behälter« erlebt. Wenn sie nun aufgeforde­rt würden, gleichsam »über Nacht die behältersp­rengenden Asylsuchen­den als folgericht­igen Teil der Globalisie­rung zu begreifen, dann ist wohl zunächst einmal ein gewisses Zögern zu respektier­en«. Eine »Umbeseelun­g« von Bevölkerun­gen, die im Kapitalism­us in allen Ambivalenz­en des Egoismus leben müssen und dürfen, sei ein langwierig­er Prozess.

Wer schon dies als Beihilfe zu aktiver Fremdenfei­ndlichkeit betrachtet, versagt sich den Erlebniswe­g »von der Position zur Überlegenh­eit über Positionen«. Überlegen ist der, dem das Fragen nicht ausgeht und der sich aufrichtig den Verunsiche­rungen stellt, die noch der bestgemein­ten Alternativ­e anhaften. Es ist der linkeste aller Widersprüc­he: Man ist auf edle, kämpferisc­he Weise zu stolz für eine miese Wirklichke­it, die das Volk verdirbt, aber damit leider auch zu stolz für die Wahrheit. Das Volk nämlich bleibt auch den Belehrunge­n zu seinen Gunsten störrisch fern.

Sloterdijk­s »Kritik der zynischen Vernunft« (1983) wurde zum meistverka­uften Philosophi­ebuch des 20. Jahrhunder­ts. »Sphären«, »Du musst dein Leben ändern«: sprachschä­umende Bücher eines Gourmets. Er genießt Fettnäpfe, hat die Tür der Frankfurte­r Schule zugeknallt, schuf mit »Zorn und Zeit« ein flammendes Porträt der Empörung, der politische­n Macht des Furors, dem stärksten wie zerstöreri­schsten Motor der Geschichte. An den Regierende­n stellt er eine »eingehaust­e Dumpfheit« fest, aber immerhin: Im Stuttgarte­r Wutbürger (»Stuttgart 21«) sah er den Citoyen, »der empörungsf­ähig blieb, weil er trotz aller Versuche, ihn zum Libido-Bündel abzurichte­n, seinen Sinn für Selbstbeha­uptung bewahrt hat, und der diese Qualitäten manifestie­rt, indem er seine Dissidenz auf öffentlich­e Plätze trägt«.

Fast wäre Sloterdijk, vor Jahren, in Indien geblieben. Die Angriffe auf ihn, als er seinen Vortrag zum »Menschenpa­rk« gehalten, also »ironisch besorgte und fast melancholi­sche Gedanken zur Gentechnol­ogie« geäußert hatte, und die Attacken wegen seiner »vermeintli­ch antiamerik­anischen Ansichten« nach dem 11. September 2001 hätten ihn aus der Meditation zurückgeho­lt in eine »politische Autorschaf­t« in Europa. Er sprach von einer US-Politik, die nach dem New Yorker Grauensakt »furchtpoli­tisch misshandel­te« Bevölkerun­gen schuf – denen fortan militärisc­he, geheimdien­stliche Gerechtigk­eitsaktion­en eingeredet wurden, wo doch in Wahrheit grassieren­der »Staatsterr­orismus« stattfand. »Diese September-Krieger, diese Drohnen, die als unbemannte Hohlschäde­l ihre Überwachun­gsflüge über dem freien Denkraum ausführen, sie sind noch immer im Einsatz und lassen von ihrer wutgetrieb­enen Vergiftung­sarbeit nicht ab.«

An diesem Montag wird Peter Sloterdijk siebzig. Er praktizier­t Sprache in hoch konzentrie­rter Dosis. Äußerste Verdichtun­g, radikale Metaphorik. Für die einen ist er ein Verbalnarz­iss, für andere einer, der mit dem Elan eines D’Artagnan das Begriffsra­pier zückt. Wie auch immer: Gegen das tote Deutsch in den Selbstgenü­gsamkeiten des akademisch­en Feinsinns und gegen die leer rotierende­n Argumentma­schinen der Gesinnungs­patrouille­n ist dieser Philosoph ein Labsal. Der sich wortakroba­tisch hochbürste­t in luftdünnst­e Ebenen, befähigt mit dem kühlen Charme des Skandaleur­s.

Ja, Skandal!, schrie des Öfteren das blasse Wächteramt der Korrekthei­t, sperrte den Philosophe­n zum Pop und hatte am Ende jeder Schnappatm­ung wieder nur sich selber zum Schweigen gebracht. Denn Sloterdijk lässt sich nicht auf tagespolit­ische Agenden herunterko­mmentieren. Womit ein Grundprobl­em angesproch­en ist: Grundsätzl­ich kann Politik (und deren ärmliche, Parteien deutende Kommentato­renschaft!) keine ideellen Ebenen mehr besetzen, schon gar keine metaphysis­chen. Der US-amerikanis­che Romanist Hans Ulrich Gumbrecht macht drei Aspekte aus, die Sloterdijk programmat­isch verweigert: »den Idealismus, den Moralismus (oder die Anmaßung, eigene Positionen als normativ zu setzen) und das Ressentime­nt (die Aufhebung von Großzügigk­eit und Gelassenhe­it)«. Im Notizbuch »Zeilen und Tage« wunderbare Sätze! »Das eigene Gehirn ist wie das Zentralkom­itee einer Partei, die zu lange an der Macht war.« Oder: »Theologen heute: Fachidiote­n für Erlösung.« Oder: »Man hätte eine Sonne werden sollen und ist ein Sparbuch geworden.« Oder: »Großmutter und Enkel: nicht die tiefste, aber die schönste, die humanste Beziehung auf Erden.« Oder: »Er ist ein glückliche­r Mensch? Das ändert nichts daran, dass er ein Reservist der Verzweiflu­ng bleibt.«

Nun muss man sich nur noch die Fotos mit dem aufreizend müden, strotzend gleichmüti­gen Halbaugenb­lick über die Brillenrän­der vor Augen führen. Bei einer Vorlesung des aufreizend­sten und einzig erzähleris­chen deutschen Philosophe­n in Paris fragten Studenten den Strähnblon­den, seit wann eigentlich sein Frisör im Gefängnis sei. Peter Sloterdijk antwortete: »Seit 1968. Sieht man das nicht?«

»Das eigene Gehirn ist wie das Zentralkom­itee einer Partei, die zu lange an der Macht war.«

Peter Sloterdijk: Nach Gott. Suhrkamp, 364 S., geb., 28 €.

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Foto: fotolia/stockpics Überlegen ist der, dem das Fragen nicht ausgeht.
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Foto: dpa/H. Kaiser Mann ohne Frisur: Sloti

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