nd.DerTag

Von ganz oben

- Von Mark-Stefan Tietze

Die

Führerin weiß interessan­te Geschichte­n zu erzählen. Von dem Wanderfalk­enpaar zum Beispiel, das auch in diesem Jahr wieder sein Nest auf dem Dach der 55. Etage gebaut hat. Da die beiden Räuber ihre Beute im Flug schlagen, beherrsche­n sie den Himmel über der Stadt und besitzen von dieser höchsten Warte aus den privilegie­rten Zugriff auf Frankfurts Vogelwelt.

Kichernd erzählt die Führerin von einem Presseterm­in zur Feier dieses Ökowunders. Gleich zu Beginn seien der Umweltdeze­rnentin etliche beringte Vogelfüße in den Knochenhau­fen rund um das Nest aufgefalle­n. Sie habe die anstößigen Beweisstüc­ke schnell mit dem Schuh unterzukeh­ren versucht, um die Tatsache zu vertuschen, dass die Falken nicht nur schmutzige Straßentau­ben, sondern gern auch nützliche und oftmals sehr teure Brieftaube­n wegschnabu­lieren. Leider zu spät.

Wir besichtige­n den »Commerzban­k-Tower«, der mit seinen 259 Metern ohne Antenne (und knapp 300 Metern mit) der höchste Wolkenkrat­zer Deutschlan­ds ist. Vor zwanzig Jahren eingeweiht und mit allerlei umweltfreu­ndlichen Raffinesse­n ausgestatt­et, zählt der Bau mit dem dreieckige­n Grundriss gewiss zu den Wunderwerk­en menschlich­er Kulturleis­tung. Vermutlich deshalb erzählt die Führerin so viel vom Kampf mit der Natur. Die nämlich wurde dem Turm architekto­nisch eingepflan­zt, am augenfälli­gsten in den drei mal drei Wintergärt­en, die seitlich jeweils über vier Stockwerke hinweg angelegt sind und den Angestellt­en als Pausenräum­e mit Panorama dienen.

Die vielen Beete, Büsche und Bäume erfordern einen gehörigen Pflegeaufw­and, mit ihnen gibt es stets Probleme. Sei es beim Abtranspor­t eingegange­ner Palmen, die zerlegt und über die Aufzüge

Hier, im 49. Stock, dürfen weder Kunstwerke noch Flipcharts fotografie­rt werden, dafür aber die berühmtest­e Herrentoil­ette Frankfurts.

entsorgt werden müssen, sei es beim rätselhaft­en Schneckenb­efall, über den die Führerin scherzt, möglicherw­eise hätten Mitarbeite­r anderer Banken ihre Hand dabei im Spiel gehabt. Bis die Milben kamen, habe hier in der 39. Etage auch ein Kräutergar­ten existiert. In jener Zeit sei man in den Aufzügen in der Mittagszei­t ständig Leuten begegnet, die aus der Kantine im Erdgeschos­s hochund mit einem Rosmarinst­engel in der Hand wieder runtergefa­hren seien.

Je höher uns die Science-Fiction-artigen Aufzüge tragen, desto pompöser wird die Sicht aus ihren bodentiefe­n Fenstern. Wie in solchen Hochhäuser­n üblich, erfolgt auch in diesem die Belegung der Stockwerke streng hierarchis­ch. Besonders grandios ist deshalb die Aussicht aus der höchsten Büroetage, in der der Vorstand haust. Hier, im 49. Stock, dürfen weder Kunstwerke noch Flipcharts fotografie­rt werden, dafür aber die berühmtest­e Herrentoil­ette Frankfurts.

Ihre Pissoirs sind in der Außenwand verbaut; durch die Fenster darüber genießt man einen wahrhaft herrschaft­lichen Blick über die Stadt. Dessen wenig subtile, geradezu unverhohle­ne Symbolik lädt manche zum Lachen ein, andere wahrschein­lich zu immer demselben Traum: der Fresskonku­rrenz in den übrigen Hochhaustü­rmen aufs Dach zu pinkeln, von ganz oben, und allen anderen einfach auf den Kopf – Natur in ihrer reinsten Form.

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