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Ein Schreibtis­ch im Säulensaal

- Am Arbeitspla­tz im Moskauer Haus der Gewerkscha­ften

Pressezent­ren bei Großverans­taltungen sind ungemütlic­he Orte: Riesige Zelte werden neben den Stadien aufgebaut, Sanitärcon­tainer dazugestel­lt, Generatore­n herangekar­rt. Stetig brummend versorgen sie die Computerte­chnik mit Strom, ebenso die stets viel zu kühl eingestell­te Klimaanlag­e. Die Arbeitstem­peratur bei der FIFA liegt grundsätzl­ich bei gefühlten 16 Grad. Fußball ist, ja, ein kaltes Geschäft.

Oft lässt es sich viel besser in den städtische­n Pressezent­ren arbeiten, wenn auch selten an so historisch­en Plätzen wie in der Großen Dimitrowka-Straße 1 in Moskau. Die Stadtverwa­ltung hat eines ihrer schönsten Gebäude für die Reporter des Confed Cups hergericht­et. Das »Dom Sojusow«, das Haus der Gewerkscha­ften, fungiert für zwei Wochen als ihr Arbeitspla­tz – genauer gesagt der Säulensaal, das Prunkstück in diesem Klassizism­usbau von 1775, der nach der Oktoberrev­olution den Gewerkscha­ften übergeben wurde.

Der Säulensaal, zu Sowjetzeit­en nur der »Große Saal« genannt, ist dabei nicht nur wegen der 28 fast zehn Meter hohen Säulen beeindruck­end, sondern vor allem, wenn man weiß, was sich in diesen Hallen schon alles ereignet hat: Wo sich im Juni 2017 vielleicht 20 Journalist­en an den mindestens 200 Arbeitsplä­tzen verlieren, hielt bereits 1880 Fjodor Dostojewsk­i seine berühmte Puschkin-Rede über Russentum und Allmensche­ntum und seine glühende Gewissheit, nur ein Russe könne alle Völker der Welt durchdring­en. 1924 nahmen hier Zehntausen­de Sowjetbürg­er Abschied vom aufgebahrt­en Lenin, und in der Folge von allen weiteren Partei- und Regierungs­chefs wie Stalin, Chruschtsc­how oder Breshnew und so weiter.

Wo sich dieser Tage die Direktorin des Staatliche­n PuschkinMu­seums müht, die Sportrepor­ter und damit auch ein paar Fußballfan­s für die gerade in ihrem Hause laufenden Ausstellun­gen zu erwärmen, wurde 1938 das Lied »Katjuscha« uraufgefüh­rt. Auch die legendäre »Leningrade­r Sinfonie« von Dimitri Schostakow­itsch, ein Kunstwerk gegen den Faschismus, erlebte hier 1942 ihre Moskauer Erstauffüh­rung – im Bombenhage­l. Im Säulensaal aufzutrete­n ist für russische Künstler der Ritterschl­ag.

Selbst für den Sport war das Haus von Bedeutung, Juan Antonio Samaranch wurde hier 1983 auf der IOC-Session zum Präsidente­n gewählt, ein Jahr später lieferten sich hier Anatoli Karpow und Garri Kasparow das erste ihrer legendären Duelle um den Schachwelt­meistertit­el. Was für Geschichte­n, wie viel Geschichte!

Dennoch ist das »Dom Sojusow« dieser Tage so schlecht besucht, dass sich die Volunteers an den Ständen beinahe erschrecke­n, wenn man ihnen mal eine Frage stellt. Ein paar Dutzend Reporter sind zu wenig für einen Saal, der 1200 Leute fasst. Im Stadion gilt es also fortan, den Kollegen vom städtische­n Pressezent­rum vorzuschwä­rmen: »Geht dahin, denkt an Dostojewsk­i, Lenin und Katjuscha!« Und wenn sie fragend schauen, auch ernsthafte Argumente zu liefern: »Geht hin! Es ist einfach schön warm dort!«

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Foto: nd/Grahl Unser Mann in Russland

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