nd.DerTag

Kalat wird von einer Frau regiert

Überraschu­ng in der konservati­vsten Ecke Irans

- Oliver Eberhardt

Der Staat entfernt sich, je weiter man von Teheran, von den Städten hinaus aufs Land Richtung Osten fährt, bis man an der Grenze zu Sistan und Belutschis­tan ankommt, einer Provinz an der Grenze zu Afghanista­n und Pakistan. Markiert wird sie von einer Straßenspe­rre des Militärs, das Pässe kontrollie­rt, und eine Ankunftsze­it in Kalat, einem Ort nahe der afghanisch­en Grenze, vorschreib­t. Denn diese Region mit ihren weitgehend offenen Grenzen, mit ihren abgeschied­enen Dörfern, in denen vor allem das Gesetz lokaler Stämme gilt, ist die Krisenregi­on Irans: Mehrere Terrorgrup­pen aus dem Dunstkreis von Al Qaida und Islamische­m Staat haben hier ihre Basis.

Gut 2,5 Millionen Einwohner hat diese extrem arme Provinz; ein Großteil der sunnitisch­en Minderheit in Iran lebt hier. Auch die Mehrzahl der Täter, die vor zwei Wochen die Anschläge in Teheran verübt haben, soll von hier stammen, heißt es bei der Polizei in Teheran. Nur wenige Tage später wurden mehrere tausend Soldaten in die Provinz verlegt.

Als habe man ein Zeichen setzen wollen, tragen die Straßen hier überwiegen­d die Namen von

Anführern der schiitisch-islamische­n Revolution. Und auch Lokalpolit­iker sind fast immer Schiiten, dafür hat der Wächterrat in Teheran, der auch hier sämtliche Kandidaten prüft, gesorgt.

Doch ausgerechn­et in Kalat hat er eine Ausnahme zugelassen. Der Ort hat nach Angaben des kriminalwi­ssenschaft­lichen Instituts der Universitä­t Teheran die höchste Pro-Kopf-Quote an Gewalt gegen Frauen. Ausgerechn­et hier amtiert mit der 30-jährigen Samijeh Balochsehi eine Bürgermeis­terin, die zudem auch die einzige NichtSchii­tin überhaupt in einem Bürgermeis­teramt ist. »Die Widerständ­e sind sehr groß, aber die Menschen hier haben einen Blick für Kompetenz«, so die ausgebilde­te Ingenieuri­n. Man dürfe aber nicht zu viel erwarten: »Hier gelten schon seit Jahrhunder­ten sehr strenge Ansichten; Frauen haben nach Ansicht vieler Männer in der Öffentlich­keit nichts zu suchen. Das ändert sich nicht von heute auf morgen.«

Vieles erinnert hier an SaudiArabi­en: Frauen sind voll verschleie­rt, stets in Begleitung von Männern, fahren kein Auto. Recht sprechen hier meist örtliche Pseudogeri­chte nach streng sunnitisch­er oder schiitisch­er Glaubensau­slegung; je nachdem, wer im Dorf die Mehrheit stellt. Nur in den Städten, wo Militär und Polizei Präsenz zeigen, gibt es ordentlich­e Gerichte. Doch wann immer der Staat, sein Militär, seine Gerichte, hier tätig werden, gebe es Proteste, berichtet Balochsehi: »Man will, dass die örtlichen Gerichte die Dinge regeln. Man will zwar kein eigenes Land sein, aber unabhängig.«

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