Kalat wird von einer Frau regiert
Überraschung in der konservativsten Ecke Irans
Der Staat entfernt sich, je weiter man von Teheran, von den Städten hinaus aufs Land Richtung Osten fährt, bis man an der Grenze zu Sistan und Belutschistan ankommt, einer Provinz an der Grenze zu Afghanistan und Pakistan. Markiert wird sie von einer Straßensperre des Militärs, das Pässe kontrolliert, und eine Ankunftszeit in Kalat, einem Ort nahe der afghanischen Grenze, vorschreibt. Denn diese Region mit ihren weitgehend offenen Grenzen, mit ihren abgeschiedenen Dörfern, in denen vor allem das Gesetz lokaler Stämme gilt, ist die Krisenregion Irans: Mehrere Terrorgruppen aus dem Dunstkreis von Al Qaida und Islamischem Staat haben hier ihre Basis.
Gut 2,5 Millionen Einwohner hat diese extrem arme Provinz; ein Großteil der sunnitischen Minderheit in Iran lebt hier. Auch die Mehrzahl der Täter, die vor zwei Wochen die Anschläge in Teheran verübt haben, soll von hier stammen, heißt es bei der Polizei in Teheran. Nur wenige Tage später wurden mehrere tausend Soldaten in die Provinz verlegt.
Als habe man ein Zeichen setzen wollen, tragen die Straßen hier überwiegend die Namen von
Anführern der schiitisch-islamischen Revolution. Und auch Lokalpolitiker sind fast immer Schiiten, dafür hat der Wächterrat in Teheran, der auch hier sämtliche Kandidaten prüft, gesorgt.
Doch ausgerechnet in Kalat hat er eine Ausnahme zugelassen. Der Ort hat nach Angaben des kriminalwissenschaftlichen Instituts der Universität Teheran die höchste Pro-Kopf-Quote an Gewalt gegen Frauen. Ausgerechnet hier amtiert mit der 30-jährigen Samijeh Balochsehi eine Bürgermeisterin, die zudem auch die einzige NichtSchiitin überhaupt in einem Bürgermeisteramt ist. »Die Widerstände sind sehr groß, aber die Menschen hier haben einen Blick für Kompetenz«, so die ausgebildete Ingenieurin. Man dürfe aber nicht zu viel erwarten: »Hier gelten schon seit Jahrhunderten sehr strenge Ansichten; Frauen haben nach Ansicht vieler Männer in der Öffentlichkeit nichts zu suchen. Das ändert sich nicht von heute auf morgen.«
Vieles erinnert hier an SaudiArabien: Frauen sind voll verschleiert, stets in Begleitung von Männern, fahren kein Auto. Recht sprechen hier meist örtliche Pseudogerichte nach streng sunnitischer oder schiitischer Glaubensauslegung; je nachdem, wer im Dorf die Mehrheit stellt. Nur in den Städten, wo Militär und Polizei Präsenz zeigen, gibt es ordentliche Gerichte. Doch wann immer der Staat, sein Militär, seine Gerichte, hier tätig werden, gebe es Proteste, berichtet Balochsehi: »Man will, dass die örtlichen Gerichte die Dinge regeln. Man will zwar kein eigenes Land sein, aber unabhängig.«