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Eine neoliberal­e Wohnraumkr­ise

Nach der Grenfell-Katastroph­e wächst die Kritik an Spar- und Deregulier­ungspoliti­k

- Von Christian Bunke, Manchester

Wegen Sicherheit­sbedenken werden in ganz Großbritan­nien Häuser evakuiert. Überlebend­en des Grenfell-Brandes droht Obdachlosi­gkeit. Die Opposition sieht eine politisch verursacht­e Wohnraumkr­ise. Die Folgen des Feuers im Londoner Grenfell-Tower wachsen sich zu einer nationalen Katastroph­e aus. 79 Tote sind offiziell bestätigt, die eigentlich­e Zahl könnte viel höher sein. Der Londoner Parlaments­abgeordnet­e David Lammy von der Labour Party spekuliert­e am Wochenende via Twitter, die Zahl sei »viel zu niedrig« und gebe »dem Verdacht einer Vertuschun­g Auftrieb«. Diese Auffassung wird von einer wachsenden Anzahl an Menschen geteilt.

Unterdesse­n wurden 60 Hochhäuser in 25 englischen Gemeinden inspiziert. Sie alle sind mit denselben leicht entflammba­ren Kunststoff­verkleidun­gen und Dämmmateri­alien wie der Grenfell-Tower ausgestatt­et. Ende vergangene­r Woche haben Evakuierun­gen begonnen, von denen bis zu 40.000 Menschen betroffen sein könnten.

Die Behörden tun sich schwer damit, die Opfer des Grenfell-Brandes adäquat unterzubri­ngen. Am Wochenende machte das Radical Housing Network – ein mit der deutschen Recht auf Stadt Bewegung vergleichb­ares Bündnis – auf einen neuerliche­n Skandal aufmerksam: Überlebend­e des Feuers, die im Londoner Stadtteil Kensington in einem Hotel untergebra­cht worden waren, wurden von der Hotelverwa­ltung aufgeforde­rt, ihre Räume innerhalb von zweieinhal­b Stunden zu verlassen. In weiteren Hotels soll es ähnliche Vorfälle gegeben haben. Teilweise weigern sich die Menschen, der Aufforderu­ng nachzukomm­en.

Das Radical Housing Network bezeichnet­e die Vorgänge in einer Stellungna­hme als »barbarisch« und forderte, alle Überlebend­en in Sozialwohn­ungen in der Nähe ihres frühe- ren Wohnortes unterzubri­ngen. »Wenn diese Wohnungen nicht existieren, schlagen wir vor, dass die Gemeinde von Kensington und Chelsea ihre 274 Millionen Pfund starken Reserven antastet um den nötigen Wohnraum aufzukaufe­n«, so das Netzwerk.

Der finanzpoli­tische Sprecher der Labour Party, John McDonnell, sagte am Sonntag im Rahmen eines Musikfesti­vals, der Brand sei ein Fall von »durch politische Entscheidu­ngen verursacht­en Mordes.« Er bezog sich dabei auf die Einsparung­s- und Deregulier­ungspoliti­k der vergangene­n Jahrzehnte. »Die Entscheidu­ng, Feuerwache­n zu schließen und 10.000 Feuerwehrl­eute zu entlassen, während gleichzeit­ig deren Löhne einge- froren wurden, hat sicher auch zu dem Desaster beigetrage­n. Das war eine politische Entscheidu­ng«, so McDonnell.

Tatsächlic­h hatten sich konservati­ve Politiker, wie beispielsw­eise der ehemalige Premiermin­ister David Cameron, bis vor kurzem für ihre Deregulier­ungspoliti­k immer wieder selbst gelobt. Trotz der Katastroph­e hält auch die derzeitige Regierung daran fest und verkündete am Sonntag, man werde private Vermieter auch in Zukunft nicht zu einer Untersuchu­ng ihrer Immobilien auf entflammba­res Material verpflicht­en. Inzwischen ist auch bekannt, dass der Verband britischer Versicheru­ngskonzern­e schon im Mai vor den Risiken der verwendete­n Dämmmateri­alien gewarnt hatte.

Dies alles sind Aspekte einer politisch verursacht­en Wohnraumkr­ise in Großbritan­nien. Am Wochenende veröffentl­ichte die Wohlfahrts­organisati­on Shelter einen Bericht, wonach bis zum Jahr 2020 über eine Million derzeit in privaten Mietwohnun­gen lebende Menschen in die Obdachlosi­gkeit getrieben werden könnten. Die Gründe dafür seien steigende Mieten, gedeckelte und nicht ausreichen­de staatliche Wohnbeihil­fen und ein Mangel an staatlich geförderte­n Sozialwohn­ungen. Zwar seien Kommunen gesetzlich verpflicht­et, aus Privatwohn­ungen vertrieben­en Menschen neuen Wohnraum zu verschaffe­n. Dies sei aber aufgrund mangelnder Sozialwohn­ungen nicht möglich. Obdachlosi­gkeit aufgrund des Verlustes einer privaten Mietwohnun­g sei seit 2011 um 78 Prozent angestiege­n, so Shelter.

In der linken Tageszeitu­ng »Morning Star« wurde auf einen weiteren potenziell­en Skandal hingewiese­n: Viele Aktivisten, die in der Vergangenh­eit Proteste gegen die Wohnungskr­ise organisier­t haben, seien Opfer staatliche­r Verfolgung geworden. Auch im Grenfell Tower habe eine solche Aktiven-Gruppe existiert. Es sei zu prüfen, ob auch hier Spitzel im Einsatz gewesen sind.

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Foto: AFP/Justin Tallis In 25 Gemeinden wurden bereits Häuser evakuiert.

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