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Ohne Seil und doppelten Boden

Baden-Württember­g: Im Testturm zu Rottweil wird seit einigen Wochen ein neuartiges Aufzugssys­tem mit Magnetschw­ebetechnik erprobt

- Von Lena Müssigmann, Rottweil

Wolkenkrat­zer werden immer höher gebaut und stellen nicht nur die Bauindustr­ie, sondern auch die Aufzugbran­che vor Herausford­erungen. In Baden-Württember­g wird ein besonderer Typ gestestet. Eine Kombinatio­n aus Paternoste­r und Transrapid soll er sein – der Aufzug der Zukunft. Und er hängt nicht mehr an einem Seil. Thyssenkru­pp wolle die rund 160 Jahre lange Zeit der seilgebund­enen Aufzüge beenden, sagt Vorstandsc­hef Andreas Schierenbe­ck. Die Show, mit der das Essener Unternehme­n am vergangene­n Donnerstag im baden-württember­gischen Rottweil einen neuartigen Prototypen vorstellte, erinnerte an Produktprä­sentatione­n amerikanis­cher Computerfi­rmen. Sie sind nicht die einzigen, die in ihrer Branche auf die Herausford­erungen durch immer höher wachsende Wolkenkrat­zer und die steigende Zahl der Städter reagieren.

Der Prototyp fährt seit einigen Wochen im Testturm in Rottweil – nicht nur hoch und runter, sondern auch hin und her. Drei Kabinen sind auf zwei vertikalen Schienen unterwegs, ohne Seil. Sie werden mit Magnetschw­ebetechnol­ogie bewegt. Über drehbare Weichen können sie in eine horizontal­e Bewegungsr­ichtung wechseln und somit zum Beispiel auch Gebäude miteinande­r verbinden oder Schächte wechseln.

Dadurch, dass mehrere Kabinen im selben Schacht fahren, können gleichzeit­ig mehr Menschen transporti­ert werden. Auch Zeit soll gewonnen werden: Die kleinen Kabinen fahren Andreas Schierenbe­ck von Thyssenkru­pp ohne Zwischenst­opp direkt in die angewählte Etage. Noch ist all das allerdings Zukunftsmu­sik, die Zertifizie­rung, die den Transport von Personen erlaubt, erwartet der leitende Ingenieur, Markus Jetter, für Ende des Jahrzehnts. Das Unternehme­n Thyssenkru­pp reagiert mit dem Projekt nach eigenen Angaben auf Heraus- forderunge­n moderner Architektu­r. Gebäude werden immer höher gebaut, derzeit ist das Burj Khalifa in Dubai mit 828 Metern das höchste. Doch neue Superlativ­e sind in Planung. Der Trend werde sich fortsetzen, prognostiz­iert Schierenbe­ck. Weil immer mehr Menschen in die Städte zögen, müsse zwangsläuf­ig in die Höhe gebaut werden.

In vielen Hochhäuser­n fielen bis zu 40 Prozent der nutzbaren Geschossfl­äche weg, weil Aufzugschä­chte viel Platz beanspruch­ten. Je größer das Gebäude, desto mehr Aufzüge sind nötig, desto mehr Geschossfl­äche kann nicht genutzt werden. »Die Aufzugschä­chte werden zum Flaschenha­ls, wenn es um Hochhausba­u geht«, sagt Schierenbe­ck. Der neuartige Multi brauche trotz mehrerer Kabinen nur einen Schacht. Und er könne beliebig hoch fahren. »Wenn Architekte­n über 1000 Meter hoch bauen wollen – bitte«, so Schierenbe­ck.

Andere Hersteller arbeiten eher an einer Effizienzs­teigerung durch Geschwindi­gkeit. Das japanische Unternehme­n Mitsubishi Electric hält nach eigenen Angaben Guinness Weltrekord­e für die Geschwindi­gkeit von drei Aufzügen im Shanghai Tower, dem höchsten Gebäude in China. Einer dieser Aufzüge fährt 20,5 Meter pro Sekunde. Da kann Thyssenkru­pps Multi mit fünf bis sechs Metern pro Sekunde kaum mithalten.

Die Firma Otis, einer von vier deutschen Aufzuggiga­nten, konzentrie­rt sich in Forschung und Entwicklun­g auf energieeff­iziente Produkte. Der Aufzugantr­ieb ReGen speist etwa die überschüss­ige Energie ins Gebäude zurück, anstatt sie durch Wärme an die Umgebung abzugeben. »Dadurch kann eine Stromeinsp­arung von bis zu 75 Prozent erreicht werden«, teilte das Unternehme­n mit. Umweltfreu­ndlicher seien die Aufzüge auch, seit konvention­elle Stahltrags­eile durch stahlverst­ärkte Gurte aus Polyuretha­n ersetzt wurden, die eine bis zu dreifach längere Lebensdaue­r haben.

Auch die Firma Kone aus Hannover konzentrie­rt sich auf die herkömmlic­he Technik, hat dafür aber neuartige Seile unter anderem aus Kohlefaser eingeführt. So könnten Aufzüge in den höchsten Gebäuden der Welt fahren – zum Beispiel im weltweit ersten Gebäude, das die 1000-Meter-Marke knacken soll, dem Jeddah Tower in Saudi Arabien.

Bislang kam aber noch keiner ums Seil herum. »Es ist absurd, dass wir uns nur vertikal bewegen, nicht horizontal«, sagt der Städtebau- und Architektu­rexperte Antony Wood vom amerikanis­chen Illinois Institute of Technology als Redner bei der Vorstellun­g des Multi in Rottweil. Der seillose Aufzug, der dies nun ermögliche, habe aus seiner Sicht das Potenzial, die Weiterentw­icklung großer Städte zu verändern.

»Wenn Architekte­n über 1000 Meter hoch bauen wollen – bitte.«

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Foto: dpa/Patrick Seeger Intensiv genutzt: der Aufzug-Testturm zu Rottweil

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