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Zu Ehren des großen deutschen Barock-Komponiste­n wurde in Magdeburg eine wahre »Telemania« zelebriert

- Von Irene Constantin

Mach den Telemann lebendig, mach, dass sich die Leute für ihn interessie­ren«, so lautete die Aufforderu­ng des Historiker­s und Beigeordne­ten für Kultur der Stadt Magdeburg, Matthias Puhle, an Marco Reiss, Geiger und begnadetes Organisati­onstalent. Und Reiss, für ein Jahr zum Magdeburge­r »Telemania«-Intendante­n ernannt, machte.

Vom 336. Geburtstag des neben Bach und Händel dritten großen deutschen Barockkomp­onisten am 14. März bis zu seinem 250. Todestag am 25. Juni hatten Reiss und sein Team vielfältig­ste Veranstalt­ungen ersonnen. Es gab die Telemann-Straßenbah­n, in der man mit Kammermusi­k durch die Stadt fahren konnte, es gab Vergnügung­sfahrten auf der Elbe von Magdeburg nach Hamburg, es gab Ausstellun­gen, Puppenthea­ter, Kinderthea­ter und beinahe sogar ein Telemann-Jazzkonzer­t mit Till Brönner, wenn nicht das jüngste Sturmtief die Pappeln im Stadtpark so sehr gefetzt hätte, dass tagelang niemand in den Park durfte.

Schließlic­h, sagt Marco Reiss, gab es Leute, die von sich aus kamen und fragten, ob sie auch irgendwas zu Telemann machen könnten. Einer war der Biologe Dr. Klaus Vogler, geigendes, schauspiel­erndes und singendes Multitalen­t. Sämtliche 50 »Sing-, Spiel- und Generalbas­sübungen« Telemanns spielte, sang und kommentier­te er; jede Vorstellun­g ein unterhalts­amer Marathonla­uf mit Perücken, Requisiten und Instrument­albegleitu­ng. Lisa Grunwald und andere Jugendlich­e im Freiwillig­en Sozialen Jahr haben »Telemann in Pop« produziert. Das Musical wurde von ihnen getextet, komponiert, die Besetzung gecastet, die Aufführung organisier­t. Inhalt: Wie würde ein Mensch wie Telemann heute klarkommen, einer, der mit zwölf, ohne jede Ahnung, schon eine Oper komponiert hatte?

Zuerst musste der Magdeburge­r Predigerso­hn jedoch das Reisen lernen. In Clausthal Zellerfeld und Hildesheim wurde er zur Schule geschickt. Eigentlich sollten ihm dort die musikalisc­hen Flausen ausgetrieb­en werden, aber in Leipzig ließ er endgültig das Jurastudiu­m sausen und wurde Musiker. Es folgten An- stellungen in Sorau und Pless im heutigen Polen, in Eisenach und Frankfurt am Main, ehe er sich als musikalisc­he Autorität für seine restlichen 46 Jahre in Hamburg niederließ. Paris war der Ort großer Gastspiele­rfolge.

In allen diesen Städten gab es Außenposte­n der »Telemania«. Wichtiger als der reisende war jedoch der geistig weltläufig­e Telemann. Ihn in- teressiert­en Literatur und Naturwisse­nschaften, und während Bach stilistisc­h sein eigenes Denkmal wurde, hörte Telemann auf die Musik um sich herum. Sein Spätwerk, komponiert, als Mozart schon auf der Welt war, lässt die Klassik nicht nur ahnen, sondern deutlich vernehmen. Dafür, dass er dazu ein angenehmer Mensch war, sprechen seine witzigen poetischen Texte und eine eigentlich frustriere­nde Episode: Seine zweite Frau betrog ihn und ließ ihn nicht nur wegen eines Liebhabers, sondern auch auf einem mächtigen Spielschul­denberg, sitzen. Statt zum Gespött zu werden, fand er Sponsoren, die etwa die Hälfte der Schulden für ihn bezahlten. Den Rest schaffte er durch immensen Fleiß. Danach legte er sich einen Garten an.

Neben viel Ungewöhnli­chem organisier­te Marco Reiss auch großartige Konzerte. Internatio­nale Spitzenint­erpreten wechselten sich mit weniger bekannten, ebenfalls barock-kompetente­n Musikern ab. Eine Seelenfreu­de die Biederitze­r Kantorei mit einer großen, für Paris komponiert­en Motette. Mein Highlight kam aus Thüringen. Vier ausgezeich­nete Solisten, der Chor der Schlosskap­elle Saalfeld und die Merseburge­r Hofmusik musizierte­n unter Leitung von Michael Schönheit das Oratorium »Der Tag des Gerichts«. Es sang und rauschte mannigfalt­igst und entfaltete pures Suchtpoten­zial.

Kammermusi­k in der Straßenbah­n

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Abb.: imago/Leemage

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