Freunde auf den ersten Blick
Albert M. Debrunner folgt den Wegen des Schriftstellers Hermann Kesten
Er hat sie fast alle gekannt. Bei Thomas Mann war er häufig zu Gast, in München und Zürich, Sanary, Princeton und Pacific Palisades. Er sah im Parkett des Berliner Lessingtheaters den Proben zu einem Stück Ernst Tollers und Walter Hasenclevers zu, als Heinrich Mann nur Augen für Trude Hesterberg hatte. Carl Sternberg zeigte ihm in Brüssel sein Schloss und die Werke der französischen Impressionisten, die dort hingen. Stefan Zweig erlebte er noch in seinem Haus auf dem Salzburger Kapuzinerberg und später in vielen Ecken Europas und Amerikas. Er saß dabei, wenn Alfred Döblin während der Exiljahre in den Kaffeehäusern am Pariser Montparnasse Witze machte und auf Gott und die Welt schimpfte. Mit vielen war er befreundet, am engsten mit Joseph Roth, den er liebte wie einen älteren Bruder und dessen Werk er 1956 erstmals herausgab, drei Jahre danach auch die Briefe. Es waren »Freunde auf den ersten Blick, Freunde nach einer Buchseite, die ich von ihnen las, Freunde einer spontanen Sympathie«. Irgendwann hat er über sie alle geschrieben.
1953 fasste er neunzehn dieser Porträts zusammen. Er nannte die Sammlung, die im Donauverlag, Wien und München, erschien, »Meine Freunde die Poeten«. Es war das Buch eines Literatursüchtigen und so erfolgreich wie keiner seiner Romane. Es war auch sein schönstes, eine liebenswürdige, anrührende Sammlung von Dichterbildnissen. Heute ist es beinahe so unbekannt wie sein Verfasser. Dabei war Hermann Kesten eine Jahrhundertgestalt, nicht wegzudenken aus dem literarischen Leben der Weimarer Republik und auch später, im Exil, unübersehbar, immer bereit, zu helfen und Mut zu machen, für notleidende Kollegen manchmal die letzte Rettung.
Albert M. Debrunner, Buchautor und Gymnasiallehrer in Basel, hat ihn noch gekannt. Vor gut fünfundzwanzig Jahren ist er ihm im privaten Kreis erstmals begegnet und war so fasziniert (»Nie vorher und nie nachher bin ich der Literaturgeschichte so nahegekommen«), dass er gleich anfing, alles zu sammeln, was von und über Kesten zu haben war: Bücher, Zeitschriften, Zeitungsartikel, Informationen aller Art. Er besuchte den Hochbetagten noch nahe Basel, er fuhr später, nach Kestens Tod am 3. Mai 1996, nach München, um den Nachlass zu mustern, wurde allmählich Kesten-Spezialist und breitet seine Kenntnisse nun auch in einer Biografie aus, der ersten, die es gibt und die schon aus diesem Grund Beachtung verdient. Endlich ein Buch, das uns diesen umtriebigen Mann mit seinen Leistungen und Verdiensten, auch seinen Ecken, Kanten und Aversionen zurückbringt. Der NimbusVerlag in Wädenswil am Zürichsee hat es gedruckt und mit Fotos, Buchansichten und Faksimiles illustriert.
Die Literatur war das Reich, in dem Kesten lebte. Sein Vater, ein jüdischer Kaufmann, liebte Bücher, sagt er, weil er die Menschen liebte, und diese Liebe ist auf den Sohn übergegangen. Er war in Galizien am 28. Januar 1900 geboren worden, verbrachte Kindheit und Jugend in Nürnberg und liebäugelte schon als Student mit dem Gedanken, eines Tages Schriftsteller zu werden. Gleich mit seinem ersten Roman, der 1927 unter dem Titel »Josef sucht die Freiheit« erzählte, wie es in den scheinbar so friedfertigen Behausungen des Kleinbürgers zuging, schaffte er einen respektablen Erfolg. Im selben Jahr wurde er literarischer Leiter des Gustav-Kiepenheuer-Verlages. Kiepenheuer war die Heimat der Jungen, und Kesten wurde ihr Anwalt, Entdecker, Psychologe und Lehrer. Er edierte Gottfried Benn und Heinrich Mann, Joseph Roth, Marieluise Fleißer und Anna Seghers und gab 1929 die viel beachtete Anthologie »24 neue deutsche Erzähler« heraus. Ins Vorwort schrieb er den Satz: »Ich bekenne mich zum Glauben an die Wirkung des Wortes.«
Vertrieben aus Deutschland, suchte er in Holland umgehend nach Möglichkeiten, seinen verfolgten Kollegen ein Forum und eine neue Existenz zu verschaffen. Wieder kümmerte er sich um andere, zuerst in Amsterdam als Lektor des Verlages Allert de Lange, dann in Frankreich und schließlich, nach gerade noch gelungener Flucht, in New York, wo er ständig mit Hilfsaktionen für emigrierte Schriftsteller beschäftigt war, Geld sammelte, Bürgschaften organisierte und Pässe beschaffte. Kesten machte auch weiter, als der Krieg zu Ende war. Er veröffentlichte in einem erschütternden Band die Briefe und Lebensberichte, die seine Kameraden in aussichtsloser Situation, in Lagern und Elendsquartieren, geschrieben hatten. Er sorgte dafür, dass man Roth und René Schickele wieder lesen konnte und Ernst Weiß nicht vergaß.
Nach Deutschland zurückgekehrt ist er nicht mehr. Er blieb draußen, ein Weltbürger mit Wohnsitz in New York, Rom und der Schweiz. Es hat ihn in der Bundesrepublik auch niemand gerufen. Rote Teppiche für Emigranten gab es dort nicht. Und der Osten kam für ihn nicht in Betracht. Seine letzten Jahre verbrachte er in einem jüdischen Altersheim.
Debrunner folgt detailliert den Wegen dieses ungewöhnlichen Literaten, der ein Riesenwerk hinterließ, sechzehn Romane, dazu Erzählungsbände und Aufsatzsammlungen, von den Bühnenarbeiten, Anthologien und Übersetzungen einmal abgesehen. Er war ungemein produktiv, ein Autor mit Esprit und Schwung, aber auch, was Debrunner nicht verschweigt, Gegner Brechts und aller, die im anderen Teil Deutschlands schrieben und die er in Bausch und Bogen verwarf, zerstritten auch mit dem früheren Freund Hans-Werner Richter und seiner Gruppe 47, der er im Zorn jegliche Qualität absprach, zudem unduldsam oder, wie in einer Fehde mit Uwe Johnson, derart verbohrt, dass er sich eine Menge Sympathien verscherzte. Manches (nicht alles) hatte mit den Erfahrungen des Emigranten zu tun, der zwar geehrt wurde (1974 etwa mit dem Georg-Büchner-Preis), sich aber auch mit Ignoranz und abschätzigen Urteilen konfrontiert sah. Schmerzhaft vor allem die Erkenntnis, dass im Westen die Leistungen der Alten, der Exilliteratur vor allem, nicht zählten. Die viel beschworene »Stunde null« kannte kein Vorher.
Albert M. Debrunner ist zu danken. Er gibt dem Mann, den manche gar nicht, andere nur vom Hörensagen kennen, ein Gesicht und eine Geschichte. Und vielleicht bringt uns ja seine Biografie wenigstens die Sammlung »Meine Freunde die Poeten« zurück. Kesten hat den Band 1959, diesmal bei Kindler, noch einmal drucken lassen, stark erweitert und nun auch mit Porträts einiger Freunde, die sehr lange schon tot sind, Rabelais etwa oder Heine, »Verwandte seines Geistes, seines Herzens, seiner Zunge«, wie Wolfgang Koeppen schrieb. Hier hat er sie aufgereiht, die Gefährten, die ihm fast alle über den Weg gelaufen sind, und die Berühmten früherer Zeiten, und hier hat er die Faszination, die Literatur auf ihn ausübte, temperamentvoll, charmant und manchmal auch spöttisch bezeugt. Gerecht ist er dabei nicht immer gewesen. Aber geliebt hat er die meisten.
Kesten war eine Jahrhundertgestalt, nicht wegzudenken aus dem literarischen Leben der Weimarer Republik und auch später, im Exil, unübersehbar.
Albert M. Debrunner: Zu Hause im 20. Jahrhundert. Hermann Kesten. Nimbus Verlag, 412 S., geb., 28 €.