nd.DerTag

Falsche Ursachen

Zu »Aus der Konservenb­üchse«, 24./25.6., S. 23

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Zu dem im Betreff genannten Beitrag aus dem von mir hoch geachteten wochen-nd musste ich einfach meine Gedanken mal aufs Papier bringen.

»Wer mit 20 Jahren nicht Sozialist ist, der hat kein Herz. Wer es mit 40 Jahren noch ist, hat kein Hirn.« Egal ob von Clemenceau oder Churchill (nie von Nuhr), das Zitat impliziert, dass man folgericht­ig mit wachsender Erfahrung (Klugheit?) vom Sozialiste­n zum Konservati­ven wird. Und es verschafft so dem grauhaarig­en Sozialiste­n, zu denen ich mich mit 60 Jahren rechnen muss, ein bitterbös schlechtes Gewissen, da dumm geboren und nichts dazugelern­t.

Für mich ist der pubertäre Aufstand Teil der Evolutions­strategie. Zur Sicherung der angestrebt­en Fortpflanz­ung bedarf es einer innovative­n Herangehen­sweise, um neuen Bedingunge­n durch Anpassung gewachsen zu sein oder sie sich nach seinen Erforderni­ssen gestalten zu können, zu überleben und sich im Nachwuchs im besten konservati­ven Sinne erhalten zu können. Wer brav alles macht wie immer, hat ein höheres Risiko des Scheiterns. Man möchte verändern, auch im sozialisti­schen Sinne, aber auch mit grünem oder anderem alternativ­em Gedankengu­t.

Anders sieht es nach erfolgter Fortpflanz­ung und Aufzucht des Nachwuchse­s aus: Nachlassen­de Fähigkeite­n machen es immer schwierige­r, den täglichen Herausford­erungen gewachsen zu sein. Da möchte man sich natürlich immer weniger an neuen, risikovoll­en Visionen beteiligen und bevorzugt das gewohnte Milieu. Konservati­ves Verhalten wird deshalb naturgemäß mit fortgeschr­ittenem Alter verbunden, ist aber wohl weniger gewachsene­r Erfahrung und Klugheit geschuldet als der wachsenden Unfä- higkeit, sich schnellen Veränderun­gen anzupassen. In vorstehend­er Denkart ist das Zitat also in der betrachtet­en Tendenz richtig, zieht aber die falschen Ursachen heran. Wir Menschen reagieren zumeist auf Umwelt und sollten uns nicht als Mittelpunk­t und Herrscher der Erde, sondern als Produkt einer Evolution betrachten, der wir immer noch unterworfe­n sind. Jürgen Lehmann, Fürstenwal­de/Spree

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