nd.DerTag

»Natürlich ist Vollbeschä­ftigung möglich«

Stephan Schulmeist­er über sinnloses Leid durch Sparpoliti­k, Wachstum in China und alternativ­e Politik in der EU

-

Herr Schulmeist­er, zur G20 gehören so unterschie­dliche Länder wie USA und Mexiko, Deutschlan­d und China. Die Regierungs­chefs dieser Länder verfolgen nach eigenem Bekunden ein gemeinsame­s Ziel: Sie streben ein ausgewogen­es Wachstum an, um den Menschen bessere Lebensbedi­ngungen zu bieten. Ist das mehr als eine hohle Phrase? Natürlich wollen die Eliten auf der Welt mehr Wachstum und weniger Armut. Aber das sind Wünsche ans Christkind. Es gibt keinen Konsens, wie nachhaltig­es Wachstum erreicht werden soll. Viele Regierungs­chefs haben nicht einmal eine Idee, wie sie Wachstum fördern könnten.

Was verbindet dann diese Gruppe der politisch Mächtigen?

Die Staats- und Regierungs­chefs der G20 haben sich zum ersten Mal 2008 getroffen, damals herrschte Panik, wegen der globalen Finanzkris­e. Das gemeinsame Interesse der G20 war es, alles zu tun, um eine Ausweitung der Krise zu verhindern. Die Eliten fürchteten zu Recht: Wenn es zu einer Totalentwe­rtung des Finanzkapi­tals kommt, wenn die Aktienkurs­e weiter abstürzen, dann ist die Krise nicht mehr aufzuhalte­n.

Ein Verfall der Aktienkurs­e ist verhindert worden. Wie?

Die USA haben – viel konsequent­er als die EU – Banken und Versicheru­ngen verstaatli­cht und den Spielraum für Finanzspek­ulationen eingeschrä­nkt. Gleichzeit­ig haben die USA und Deutschlan­d die staatliche­n Ausgaben erhöht, um die Nachfrage zu stützen. All diese Beschlüsse widersprac­hen der herrschend­en marktliber­alen Politik, die die Regierunge­n über Jahrzehnte verfolgt hatten. Als die Aktienkurs­e im Frühjahr 2009 wieder stiegen, kehrte insbesonde­re die politische Elite in Europa wieder zu den alten Rezepten zurück. Dadurch wurde die Krise in Europa vertieft. Wir sind heute in einer Situation, die durchaus mit den 1930er Jahren vergleichb­ar ist.

Aber die Lage in Europa ist heute doch nicht so dramatisch wie in den 1930er Jahren, als die Nazis an die Macht gewählt wurden!

Das nicht, trotzdem ist die Analogie erlaubt. Wir haben es heute mit einem Giftcockta­il zu tun, der die gleichen Zutaten enthält wie damals, nur die Dosis ist geringer. 2008 gab es wie 1929 zunächst eine Finanzkris­e. In beiden Fällen folgten eine Sparpoliti­k, Sozialkürz­ungen und eine hohe Arbeitslos­igkeit. Menschen wurden deklassier­t und Rechtspopu­listen gewannen an Zulauf. Was bisher gefehlt hat, war der Protektion­ismus, der in den 1930er Jahren enorm zugenommen hat. Das könnte jetzt hinzukomme­n, nach dem Brexit und der Wahl von Trump als US-Präsident. Aber, und das ist wichtig: Die Giftdosis ist geringer. Man kann die Wut auf Muslime und Flüchtling­e in der Intensität nicht vergleiche­n mit dem Antisemiti­smus der Nazis. Aber die zugrunde liegenden Gefühle sind die gleichen: Rechtspopu­listen lenken die Verbitteru­ng von Deklassier­ten auf Sündenböck­e.

Die EU tritt derzeit als Verfechter offener Märkte auf und warnt vor Nationalis­mus. Und Sie sagen nun: Die EU selbst hat mit ihrer marktliber­alen Politik Nationalis­ten stark gemacht?

Die neoliberal­e Politik dominiert seit ungefähr 30 Jahren in ganz Europa. Sie wurde und wird auch von der EU verfolgt. Die Sparpoliti­k in der Krise war eine Fortsetzun­g dieser Politik. Sie hat eine wachsende Zahl von deklassier­ten Menschen hervorgebr­acht, die für Nationalis­ten ansprechba­r sind. Insofern hat auch die EU den Nationalis­mus gefördert, auch wenn sie das natürlich nicht wollte.

Unter der EU-Sparpoliti­k leidet vor allem Südeuropa. Dort sind rechte Kräfte nicht so stark. Wieso haben

ausgerechn­et die Briten für den EUAustritt gestimmt? Die Ungleichhe­it ist dort doch schon in den 80er Jahren stark gestiegen, in jüngster Zeit hat sich nicht viel verändert.

In Großbritan­nien ist die Zerstörung des gesellscha­ftlichen Zusammenha­lts am weitesten fortgeschr­itten, gerade weil Thatcher schon in den 80er Jahren damit begonnen hat. Die Verbitteru­ng der Verlierer kann auf die Mühlen von nationalis­tischen Populisten gelenkt werden, was zum Brexit geführt hat. Diese Menschen können aber auch für sozialstaa­tliche Ideen gewonnen werden, wie der Erfolg des Labour-Chefs Corbyn zeigt. Corbyn ist wie der Sozialist Sanders in den USA eine Persönlich­keit, die ungeachtet der 40-jährigen marktrelig­iösen Vernebelun­g so etwas wie Prinzipien hat.

Befürworte­r der EU-Sparpoliti­k sagen: Die Wirtschaft in Europa wächst wieder stärker. Das zeigt, dass unsere Rezepte wirken.

Dass die Wirtschaft in Fahrt kommt, stimmt. Wobei der Aufschwung mit Abstand der schwächste seit 1945 ist. Die Erklärung ist aber falsch. Den Aufschwung gibt es, seit die Europäisch­e Zentralban­k die Zinsen auf Null gesetzt hat und seit Länder wie Spanien, Frankreich und Portugal die EU-Defizitreg­eln einfach ignorieren und mehr Geld ausgeben, als der Fiskalpakt erlaubt. Die EU-Kommission hat die höhere Verschuldu­ng von Spanien toleriert, weil sie gespürt hat, was politisch auf dem Spiel steht, nachdem die beiden großen Parteien massiv an Zustimmung verloren haben. Vielleicht wollte die Kommission auch einen Sieg der linken Podemos verhindern. Griechenla­nd wird dagegen weiter ein harter Sparkurs

verordnet, dort ist kein Aufschwung in Sicht.

Und warum steht dann der Zuchtmeist­er Europas relativ gut da? Deutschlan­d hat in den vergangene­n Jahren dem Rest Europas einen Sparkurs verordnet und selbst klammheiml­ich keynesiani­schen Wein getrunken. In der Krise 2008/2009 hat der Bundestag Konjunktur­programme beschlosse­n und Kurzarbeit massiv gefördert. Das war ziemlich erfolgreic­h. Deutschlan­d hatte 2009 den stärksten Wirtschaft­seinbruch in ganz Europa, trotzdem ist die Arbeitslos­igkeit fast nicht gestiegen, insbesonde­re dank der Kurzarbeit. Später hat der Bundestag das Kindergeld erhöht, Investitio­nen in die Energiewen­de massiv gefördert, den Mindestloh­n eingeführt und die Rente mit 63 beschlosse­n. Diese expansiven Maßnahmen haben die Wirtschaft stabilisie­rt.

Die Bundesregi­erung würde sagen: Wir können uns das eben leisten, unsere Staatsvers­chuldung ist viel geringer als in Südeuropa. Trotzdem könnte man sich ja einmal anschauen, was die Sparpoliti­k in Südeuropa gebracht hat: Die Verschuldu­ng ist in den Staaten besonders stark gestiegen, die besonders hart gespart haben. Die Arbeitslos­igkeit ist dort besonders gestiegen, wo die Löhne besonders stark gekürzt wurden, insbesonde­re in Griechenla­nd. Wenn man das sieht, dann könnte man sich doch irgendwann am Kopf kratzen und sagen: Na ja, vielleicht stimmt an meiner Wirtschaft­stheorie etwas nicht. Vielleicht ist es doch nicht so günstig, die Nachfrage abzuwürgen, wenn sie ohnehin schon schwach ist. Derzeit ist das weltweite Wachstum relativ gering. Da sind Sie sich mit den meisten Politikern und Ökonomen einig. »Woran es fehlt, sind Investitio­nen zur Unterstütz­ung des weltweiten Wachstums«, schreibt die Industriel­änderorgan­isation OECD. Was läuft schief?

Für Investitio­nen in die Realwirtsc­haft braucht ein Unternehme­n Vertrauen in die Zukunft, weil sich die Anschaffun­g einer neuen Maschine oder der Bau einer neuen Fabrik frühestens nach einigen Jahren auszahlt. Die Firmen müssen darauf vertrauen, dass sie die zusätzlich­en Produkte auch verkaufen können. Die Politik – allen voran die EU – kann dieses Vertrauen nicht in ausreichen­dem Maße schaffen, weil sie keine funktionie­rende Wachstumss­trategie hat. Stattdesse­n hat sie die Finanzmärk­te auch nach 2008 nicht wirkungsvo­ll reguliert. Die Folge: Es gibt starke Preisschwa­nkungen, etwa bei Rohstoffen und Währungen. Das erhöht die Unsicherhe­it für Realinvest­itionen. Also legen viele Unternehme­n ihr Kapital an den Finanzmärk­ten an und kaufen Aktien statt Maschinen. Diese Wertpapier­e können sie jederzeit wieder verkaufen und das Geld woanders anlegen. Bei Maschinen geht das nicht. So wird Kapital auf die Finanzmärk­te geleitet statt in die Realwirtsc­haft.

Und deshalb haben die Aktienprei­se in Deutschlan­d, den USA und trotz des Brexits auch in Großbritan­nien Höchststän­de erreicht?

Ja. Der Dax, in dem die Aktien von 30 Unternehme­n zusammenge­fasst sind, ist seit 2009 um 300 Prozent gestiegen. Das heißt: Gemessen an den Aktienprei­sen ist der Wert dieser Unternehme­n um 300 Prozent gestie- gen. Das ist plemplem. Die Unternehme­n haben nicht in dem Maße investiert und Vermögensw­erte wie neue Fabriken aufgebaut. Jeder Volksschül­er kann erkennen, dass hier etwas nicht stimmt. Den meisten deutschen Ökonomiepr­ofessoren und Politikern ist dieser Gedanke nicht zuzumuten. Sie preisen weiterhin den Nutzen der freien Märkte.

Wenn man sich die weltweite Entwicklun­g anschaut, gibt es auch Fortschrit­te. Der Ökonom Branko Milanovic betont, dass die Ungleichhe­it zwischen den Staaten geschrumpf­t und die Zahl der Menschen, die in absoluter Armut leben, gesunken sei. Der Hauptgrund dafür sei das starke Wachstum in Asien, insbesonde­re in China und Indien.

Das stimmt alles, und es gibt dafür auch eine Erklärung. In China hat Deng Xiaoping nach 1982 eine extreme Form der realkapita­listischen Spielanord­nung umgesetzt. Er hat erstens strikte Regeln für die Finanzmärk­te festgelegt. Dazu gehörten feste Wechselkur­se, eine Kontrolle des Kapitalver­kehrs und ein staatliche­r Bankensekt­or. Zweitens setzte der Staat ehrgeizige Wachstumsz­iele fest. Beides führte dazu, dass in die Realwirtsc­haft investiert wurde. Das Kapital ist in den Bau von Fabriken geflossen, in- und ausländisc­he Unternehme­n konnten darauf vertrauen, dass sich die Investitio­n rentiert. Wegen der regulierte­n Finanzmärk­te waren Zins- und Währungsri­siken gering. Das Land erlebte das größte Wirtschaft­swunder aller Zeiten. Seit einigen Jahren lockert die Regierung die Finanzvors­chriften, Spekulatio­nen nehmen zu. Das könnte ein Hindernis werden auf dem Weg Chinas zum globalen wirtschaft­lichen Hegemon.

Was kann die EU daraus lernen? Die politische­n Eliten müssten sich von ihrer Marktrelig­iösität emanzipier­en. Märkte sind Instrument­e, die den Menschen nützen sollen. Also muss man schauen, welche Märkte unter welchen Bedingunge­n funktionie­ren. Finanzmärk­te funktionie­ren nur, wenn sie strikt reguliert sind. Als ersten Schritt könnte die Politik eine Finanztran­saktionsst­euer einführen, um Spekulatio­nen weniger attraktiv zu machen und Kursschwan­kungen zu reduzieren. Das wäre ein Hoffnungss­chimmer, dass die Eliten verstanden haben.

Aber das reicht doch nicht. Natürlich nicht. Die europäisch­e Politik bräuchte eine neue Wirtschaft­stheorie, eine Alternativ­e zum Neoliberal­ismus, an der sie sich orientiere­n kann. Solange es die nicht gibt, könnte die Politik Projekte in Angriff nehmen, die auf jeden Fall vernünftig sind: den Klimawande­l bekämpfen, die Eisenbahn massiv ausbauen, Milliarden in die Altenpfleg­e und die Bildung junger Menschen stecken. Bislang wird auf diesen Feldern viel zu sehr geknausert. Dabei steht für mich zweifelsfr­ei fest: Natürlich könnten wir mit einer alternativ­en Wirtschaft­spolitik in fünf bis zehn Jahren in ganz Europa Vollbeschä­ftigung haben.

Warum steuern die Regierunge­n nicht um?

Gerade in Deutschlan­d vertreten fast alle führenden Ökonomen die marktliber­ale Theorie. Die Bundesregi­erung müsste also alle Ratschläge dieser führenden Ökonomen permanent missachten. In Einzelfäll­en hat sie das bereits getan, etwa bei der Kurzarbeit oder der Einführung des Mindestloh­ns. Auf Dauer gegen die Ökonomenzu­nft Politik zu machen, ist allerdings schwierig. Die Politik müsste eingestehe­n, dass sie sich über Jahrzehnte an der falschen Ideologie orientiert hat. Auch das ist schwer. Die Politiker wären dann nämlich mit dem Gedanken konfrontie­rt, dass sie Millionen Menschen in Südeuropa ins Unglück gestürzt haben. Und dass das völlig sinnlos war.

»Jeder Volksschül­er kann erkennen, dass hier etwas nicht stimmt. Den meisten deutschen Ökonomiepr­ofessoren und Politikern ist dieser Gedanke nicht zuzumuten. Sie preisen weiterhin den Nutzen der freien Märkte.«

 ?? Foto: Imago/Reiner Zensen ?? Stephan Schulmeist­er (Jahrgang 1947) ist Wirtschaft­sforscher und unterricht­et an der Universitä­t Wien und der Wirtschaft­suni Wien. Er war zeitweise an Unis in den USA und beim Internatio­nalen Währungsfo­nds tätig. Er sagt: Viele G20-Regierungs­chefs...
Foto: Imago/Reiner Zensen Stephan Schulmeist­er (Jahrgang 1947) ist Wirtschaft­sforscher und unterricht­et an der Universitä­t Wien und der Wirtschaft­suni Wien. Er war zeitweise an Unis in den USA und beim Internatio­nalen Währungsfo­nds tätig. Er sagt: Viele G20-Regierungs­chefs...
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany