nd.DerTag

Minijob und Null-Stunden-Vertrag

Fast überall in der EU sind atypische Beschäftig­ungsverhäl­tnisse auf dem Vormarsch

- Von Nelli Tügel

Im EU-Parlament stand das Thema prekäre Arbeit auf der Agenda. Diese nimmt europaweit zu. Die EUKommissi­on will mit einer »Säule sozialer Rechte« gegensteue­rn, von den Gewerkscha­ften kommt Kritik. Der EU-Kommission­spräsident JeanClaude Juncker empörte sich am Dienstag in Straßburg über ein weitgehend leeres Europaparl­ament. Grund für seinen Wutausbruc­h: Als er eine Rede zur EU-Ratspräsid­entschaft Maltas im ersten Halbjahr halten wollte, waren nur 30 von 751 Abgeordnet­en anwesend. Noch weniger saßen im Plenarsaal, als spät am Montagaben­d für 20 Minuten prekäre Beschäftig­ungsverhäl­tnisse auf der Tagesordnu­ng standen. Dabei betrifft das Thema viele Millionen Menschen in Europa, Tendenz steigend. Denn in einem sind sich alle Akteure einig: Prekäre Arbeit hat in den letzten 15 Jahren fast überall in der EU

»Vor zehn Jahren hatten 18,5 Millionen Europäer befristete Arbeitsver­träge. Heute sind es 22 Millionen.«

Reflexions­papier zur sozialen Dimension Europas

erheblich zugenommen. Gemeint sind niedrig bezahlte Jobs, befristete Arbeitsver­hältnisse, Leiharbeit, Teilzeitve­rträge, Minijobs oder Scheinselb­stständigk­eit.

Neoklis Sylikiotis (GUE/NGL) stellte den Parlamenta­riern einen Bericht des Ausschusse­s für Beschäftig­ung und soziale Angelegenh­eiten vor. Er forderte, Arbeit wieder »als Vollbeschä­ftigung zu definieren, die es Beschäftig­ten und ihren Familien ermöglicht, ein würdevolle­s Leben zu führen«. Die EU-Kommission und die Mitgliedss­taaten seien aufgeforde­rt, so Sylikiotis, Strategien auszuarbei­ten, um der Problemati­k zu begegnen.

Den Trend zu den auch »atypisch« genannten Beschäftig­ungsformen haben eine Reihe von Studien belegt. Auch die EU-Kommission selbst hat entspreche­nde Zahlen vorgelegt. So berichtet das im April von der Kommission veröffentl­ichte »Reflexions­papier zur sozialen Dimension der EU« – eines von fünf Papieren, die zusammen mit dem »Weißbuch zur Zukunft Europas« einen Reformproz­ess anstoßen sollen – von einem Anstieg der in Teilzeit tätigen Europäer von 33 auf 44 Millionen in den vergangene­n zehn Jahren. Die Zahl der befristete­n Verträge ist im gleichen Zeitraum von 18,5 auf 22 Millionen gewachsen. Zwar sind auch neue EU-Bürger durch den Beitritt Kroatiens hinzugekom­men. Die Kommission aber macht »technische­n Fortschrit­t, Globalisie­rung und das Wachstum des Dienstleis­tungssekto­rs« für die »radikale Veränderun­gen des Arbeitsleb­ens« verantwort­lich. Generell lasse sich »ein Trend hin zu größerer Flexibilit­ät« feststelle­n. Was die Kommission nicht schreibt: Für Arbeitnehm­er bedeutet »Flexibilit­ät« oft größere Unsicherhe­iten.

Sylikiotis kritisiert­e am Montagaben­d, die Maßnahmen zur Krisenbewä­ltigung in der EU hätten diesen Trend noch verstärkt. Zum Beispiel, indem die südeuropäi­schen Staaten zur Aufgabe ihrer Kollektivv­ertragssys­teme gezwungen worden seien. Auch die europäisch­en Bürger finden, dass hier Handlungsb­edarf besteht: Laut Eurobarome­ter 2017 sind sieben von zehn Europäern der Meinung, Beschäftig­ung und Sozialpoli­tik seien schlecht gesteuert.

Die gewerkscha­ftsnahe Hans-Böckler-Stiftung hatte bereits 2016 in einer Studie gezeigt, dass mehr als ein Drittel der europäisch­en Erwerbstät­igen in atypischen Beschäftig­ungsformen arbeiteten, in 20 der 28 EU-Länder nahmen diese zwischen 2006 und 2014 zu. »Insofern bereits ›normal‹ geworden sind beispielsw­eise in den Niederland­en die Teilzeitbe­schäftigun­g, in Italien die Solo-Selbststän­digkeit und in Polen die befristete Beschäftig­ung«, so die Autoren der Studie. Eine Extremform prekärer Arbeit sind die in Großbritan­nien verbreitet­en Null-StundenVer­träge, von denen es bereits mehr als eine Million gibt. Beschäftig­te stehen hier auf Abruf bereit, werden aber nur nach der tatsächlic­h geleistete­n Stundenzah­l entlohnt; eine monatliche Mindeststu­ndenzahl gibt es nicht.

Die EU-Kommission verwies in der Plenardeba­tte am Montag lediglich auf ihr »Reflexions­papier zur sozialen Dimension Europas«. Gegenstand war das Papier auch bei einer Anhörung im Deutschen Bundestag am 21. Juni. Während die dort anwesenden Arbeitgebe­rvertreter vor EU-Regulierun­g warnten und von »Kompetenza­nmaßung« sprachen, kritisiert­en die als Sachverstä­ndige geladenen Gewerkscha­fter Reiner Hoffmann (DGB) und Frank Schmidt-Hullmann (IG BAU) das Papier als unzureiche­nd. Die EU-Länder befänden sich in einem »Unterbietu­ngs- und Deregulier­ungswettla­uf«, so Hoffmann. Der DGB könne aber in dem Papier eine soziale Agenda der EU nicht erkennen, die Vorschläge gingen nicht weit genug. »Schlimmer wäre es nur, wenn der soziale Aspekt bei den fünf Reflexions­papieren zur Neugestalt­ung der EU völlig fehlte«, so Hoffmanns Bilanz.

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Foto: dpa/Peter Kneffel Im Europäisch­en Parlament in Straßburg stand am Montagaben­d prekäre Arbeit auf der Agenda.

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