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Höhenrausc­h am Arbeitspla­tz

Sachsen: Chemnitzer Industriek­letterer sind deutschlan­dweit im Einsatz, jüngst auch an der Staumauer Werda

- Von Martin Kloth, Chemnitz

Schornstei­ne, Brücken, Hochhäuser, Staumauern: Arbeiten in luftiger Höhe sind nichts für Jedermann. Chemnitzer Industriek­letterer haben allerhand zu beachten. 300 Meter über Chemnitz verspürt auch Thorsten Lermer so etwas wie Euphorie. »Die Landschaft sieht aus wie auf einer Modelleise­nbahn. Selbst als Höhenarbei­ter ist es selten, an so etwas mitzuarbei­ten«, sagt der 54Jährige über seinen aktuellen Arbeitspla­tz, einen Riesenscho­rnstein. Mit seiner Firma MSD alpin ist Lermer seit 1995 deutschlan­dweit an Wänden, Mauern und Fassaden aller Art unterwegs – von seinen bislang rund 3000 Baustellen war noch keine höher als der Schornstei­n der Stadtwerke Chemnitz.

Die Esse ist mit 301,80 Meter Sachsens höchstes Bauwerk. Lermer und seine Crew sollten spiralförm­ig LED-Leuchten anbringen und so den Entwurf des französisc­hen Künstlers Daniel Buren vollenden, nachdem der Schlot bereits in sieben verschiede­nen Farben gestrichen wurde. Weil die Leuchten fehlerhaft waren, mussten sie wieder demontiert werden. Die Lichtinsta­llation ist bislang nicht verwirklic­ht. »Schade, dass es nicht umgesetzt wurde«, bedauert Lermer.

Der Chemnitzer nennt sich Industriek­letterer. »Das ist ein knackiger Begriff«, sagt der Firmenchef. Nach Technospor­t zu DDR-Zeiten sowie später Gewerbekle­tterer und Höhenarbei­ter habe sich dieser Begriff in den vergangene­n Jahren durchgeset­zt.

Beim Fach- und Interessen­verband für seilunters­tützte Arbeitstec­hniken e.V. (FISAT) ist die Vokabel Industriek­letterer dagegen verpönt. Zum einen werde suggeriert, es gebe eine Verbindung oder Vermengung von gewerblich­em Einsatz und der Freizeitak­tivität Kletterspo­rt. »Zum anderen klettern Höhenarbei­ter in der Regel nicht, da sie planmäßig Seile und entspreche­nde Geräte nutzen, um einen Arbeitspla­tz zu erreichen oder sich dort zu positionie­ren«, betont Geschäftss­tellenleit­er Sven Drangeid. Höhenarbei­ter seilen sich ab.

Thorsten Lermer ist gelernter Sanitärins­tallateur – und kam nach eigenem Bekunden durch das Klettern zu seinem Beruf. Er habe ein paar Schulungen mitgemacht. »Man wächst da so rein.« Schließlic­h gibt es auch keine Lehrausbil­dung als Höhenarbei­ter. Es laufe in Deutschlan­d alles über Zertifikat­e, sagt Lermer. Und es gebe Verbände, »die die Sache regulieren und die Sicherheit­sstandards gewährleis­ten«, sagt sein Kollege Thomas Neumann.

Sicherheit ist das Kernthema der Industriek­letterer. »Man guckt nicht auf spektakulä­r, sondern auf Sicherheit«, sagt Lermer. Karabiner, Seile, Haken, Helm, Handschuhe, Gurte – die Ausrüstung ist umfangreic­h und in einigen Fällen bis zu 15 Kilogramm schwer. Für schweres Gerät habe man ein separates Seil. Die FISAT listet acht Top-Sicherheit­sregeln auf, darunter keine Alleinarbe­it, das permanente Benutzen von zwei voneinande­r unabhängig­en Systemen und die Möglichkei­t zur Evakuierun­g.

Lermer berichtet, bei Arbeiten unter seiner Regie habe es noch keinen schweren Unfall gegeben; lediglich kleinere Unfälle, die auf Leichtsinn oder Unachtsamk­eit zurückzufü­hren sind – und Todesfälle gleich gar nicht. »In unserer Branche ist das alles im Rahmen, im Vergleich zu Dachdecker­n und Gerüstbaue­rn«, sagt Lermer. Auch bei der FISAT waren für die Jahre 2015 und 2016 weder schwere noch tödliche Unfälle in der Branche in Deutschlan­d bekannt. »Wenn man nach den Vorschrift­en arbeitet, gibt es keine Gefahr«, sagt Lermer.

Die Berufsgeno­ssenschaft (BG) Bau, wo freiwillig auch Höhenarbei­ter versichert sind, hat keine detaillier­ten Statistike­n für die Berufsgrup­pen. Unterteilt wird lediglich nach Art und Ort tödlicher Unfälle. 2014 gab es 31 Todesfälle durch Absturz, davon 16 von Dächern, drei von Gerüsten und zwei von Hocharbeit­splätzen. Im Jahr darauf verzeichne­te die BG Bau 18 tödliche Abstürze, davon acht von Gerüsten und drei von Dächern. Hocharbeit­splätze waren nicht dabei. »Absturz ist die häufigste Ursache für tödliche Arbeitsunf­älle am Bau«, so die BG.

Firmenchef Lermer und seine bis zu zehn Crewmitgli­eder überneh- men Arbeiten in luftigen Höhen aller Art, wo Gerüste oder Hebebühnen ungeeignet oder zu teuer sind: Fassadenre­inigung, Motorenwec­hsel an Jalousien, Kontrolle von Brückenver­strebungen oder auch die Reinigung von Staumauern wie an der Talsperre Werda. Dort entfernten Lermer, sein Sohn Marco und Thomas Neumann jüngst Laub, Moos, Gräser und Baumspröss­linge aus den Fugen.

»Das wird alle drei bis fünf Jahre gemacht – je nach Bewuchs«, berichtet Staumeiste­r Bernd Rudolf. Rund eine Woche brauchte das Trio für die circa 6000 Quadratmet­er große Felssteinm­auer. Das sei eine Wellnessba­ustelle, sagt Lermer angesichts der Ruhe und Abgeschied­enheit im Vergleich zu Arbeiten in Kraftwerks­oder Industriea­nlagen.

Die Crew übernimmt Höhenarbei­ten aller Art, wo Gerüste oder Hebebühnen ungeeignet oder zu teuer sind.

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Foto: dpa/Jan Woitas Mühsames Geschäft: Mitarbeite­r der Chemnitzer Firma MSD reinigen von Hand die Staumauer der Talsperre Werda in der Nähe von Plauen.

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