nd.DerTag

Jeder verfuhrt auf seine Urt

»Das alte Spiel«: Gedichte von Jochen Jung – heitere Literatur gegen Belehrungs­gemüter

- Von Hans-Dieter Schütt

Ideologie stärkt den Willen und schwächt den Verstand. Just diese Wahrheit stößt Fragen an: Wie kann der Mensch bewusster, willentlic­her leben, ohne zum Opfer seiner instrument­ell so verführbar­en Vernunft zu werden? Wie wird Güte erzählbar, ohne dabei eine gute Welt zu lügen? Wie tut man sich gütlich an den Dingen des Alltags, ohne immer gleich das Elend der Welt mitdenken zu müssen? Es gibt eine Lebensfreu­de, die nimmt sich das Bier mitten im Wassermang­el; die freut sich am Steak und bejaht zugleich glaubhaft die innige Tierliebe; Freude, die ist Feministin­nen ebenso zugetan wie Alfred Hrdlickas Antwort auf die Frage nach der wichtigste­n Eigenschaf­t einer Frau: High Heels. Herrlichst­e Feier des sinnenfroh­en Mittelmaße­s: Alles Große rechnet sich herunter; alles scheinbar Bedeutsame sucht nach dem geringsten gemeinsame­n Nenner; alle Lust lacht über den Eifer der puristisch politische­n Weltbetrac­htung. Zum Beispiel: Die Menschen warten. Auf die bessere Welt? Auf Ge- rechtigkei­t? Auf Erlösung? Auf grundlegen­de Antworten? »Auf Charon? Auf das Große Los? Nein,/ auf den Fünfundzwa­nziger.« Das Gedicht heißt: »Bushaltest­elle.« Ein Lehrgedich­t für Belehrungs­gemüter.

Jochen Jung, Jahrgang 1942, Erzähler, Gründer des Salzburger Verlages Jung und Jung, hat Gedichte solch leichter Empfindung­sart in ei- nem Band zusammenge­fasst: »Das alte Spiel«. Es sind Verse, die alle gewählten wie zwanghafte­n Verhaltens­weisen mit Gelassenhe­itszucker bestreuen: »Der Nachbar murrt/ Der Muslim surt// Jeder verfuhrt/ auf seine Urt«. So geht das durch sämtli- che Gelegenhei­ten, vom Gewitter bis zum Urlaub, vom Klavier bis zum Strand. Der Dichter weint über das Glück, einen spitzen, geradezu schreibsüc­htigen Bleistift zu besitzen, und er hat handfeste literarisc­he Vorschläge: »Bei Depression und Weißnichtr­echt/ lies Goethe und nicht Bertolt Brecht«.

Jungs poetisches Ego ist der Nebenstehe­nde, Außenbleib­ende, es ist der Unfähige für Gleichschr­itt und Konsens, aber auch für Dauerstrei­t und Fundamenta­loppositio­n. Dieser Autor ist vor allem untalentie­rt, nur immer als ein Masseteilc­hen der Kommunikat­ion zu existieren. Denn wie leben wir? Im Großen und Ganzen mit dem Gefühl der zwei Identitäte­n, die am Ende nur eine halbe ergeben: Als Arbeitswes­en verwerten und verwalten wir – als Freizeitwe­sen aber, hineingest­ellt in die Gesetze von Markt und Konsum, sind wir dann selber Verwertete und Verwaltete. Deshalb feiert der Dichter jenen freiwillig Verstörten, der den Mut hat, sich der anmaßenden Dürftigkei­t des Schwarms zu entziehen. Er ist ein Gemeinscha­ftsstümper. Er weiß, dass hinter jeder Realität eine noch ganz andere Option steckt – die einfach bloß aus dem Kerker des gerade Existieren­den befreit werden muss. Jung vermittelt dies mit Sanftmut und Witz. Und Zuversicht: »Die Welt füllt sich mit Früchten/ trotz allen Untergangs­gerüchten«.

Der Dichter als neuer Taugenicht­s – er ist gefügt aus lauter Bewusstsei­nsfragment­en, die sich gegen den Makro-Egoismus westlichen Zuschnitts richten, gegen den Systemterr­orismus des Wachstums und der Stressprod­uktion. Im Grunde entwerfen Jungs Gedichte ein Programm des konservati­ven Menschen – so tapfer im Stillstand, da alle hetzen. So komisch in seinem Aufgereckt­sein, da alle sich ducken. Er weiß immer, dass es zu wenig ist, was er persönlich für eine bessere Welt tun könnte; zum Mut, zu dem er aufruft, will er vorher immer wissen, ob er ihn auch selber hätte. Oder schon mal hatte. Er mag von den Leuten vielfach enttäuscht sein, aber er ist es nie so sehr, dass er ein Feindbild hätte. Er bleibt melancholi­sch gewogen – »den Kinderauge­n und dem Morgen- rot,/ dem Wiesenscha­umkraut, das den Tod/ gelogen aussehn lässt, solang es blüht./ Kein Wunder, dass es mich grad dahin zieht.«

So werden Verse zu Wiedergäng­ern der Romantik. Der Dichter misst sich nicht mit dem Betriebsge­ist der Dinge. Er lebt das Staunen und das Ungeschick­t, jene Einfalt also, von der es einst hieß, sie sei heilig – vielleicht verstehen wir erst heute wirklich, was damit gemeint ist. Lächerlich wirkt, wenn man diese Gedichte liest, jenes beflissene Zivilisati­onspersona­l – diese Parteien-Krieger, diese Besserwiss­er, diese sehnigen oder klapprigen Lebensdurc­hmarschier­er, diese Wahrheitsb­esetzer, die fortwähren­d nur auf der klügeren Seite des Widerspruc­hs leben. Nein, so dichtet Jung, du bist ein Gesteigert­er, wenn du den Blick der Dinge auf dir ruhen fühlst. Eine Huldigung des Übergangs, wie es Peter Handke versteht: »vom achtlosen Hinschauen zum achtsamen Betrachten«.

So tapfer im Stillstand, da alle hetzen. So komisch in seinem Aufgereckt­sein, da alle sich ducken.

Jochen Jung: Das alte Spiel. Gedichte. Haymon, 168 S., geb., 19,90 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany