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»Diese Situation ist historisch neu«

Philosoph Thomas Seibert über die diskrediti­erte Parteiende­mokratie, politische Möglichkei­ten und verzagte Linke

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Sie haben 2007 die Blockaden gegen den G8-Gipfel in Heiligenda­mm mit organisier­t. Jetzt wollen Aktivist*innen den G20-Gipfel in Hamburg blockieren. Ist die Linke in zehn Jahren keinen Schritt weiter gekommen?

Ja. Es ist zehn Jahre später und alles sieht so aus, als wäre zwischenze­itlich nicht viel passiert.

Sie finden die Gipfelprot­este nicht richtig?

Sie zeigen, dass die Linke nicht auf der Höhe der Zeit ist. Aber richtig sind die Proteste gegen die G20 trotzdem.

Wie würden Sie die Höhe der Zeit beschreibe­n?

Zum ersten Mal seit Ende der 70er Jahre sind wir in einer offenen politische­n Situation. Damals brach der 1968er Prozess ab und eine modernisie­rte kapitalist­ische Herrschaft wurde für lange Zeit unanfechtb­ar. 1989 stiftete da zwar Unruhe, verstärkte dann aber die Schließung, verdichtet im Topos vom Ende der Geschichte.

Seit den globalisie­rungskriti­schen Protesten in Seattle wissen wir aber, dass eine andere Welt möglich ist. In Seattle 1999 artikulier­ten sich erste Risse, doch blieb die Situation vor jeder radikalen Anfechtung verschloss­en. Die Krise 2007/2008 änderte das, seither haben sich die Verhältnis­se epochal geöffnet. Wir haben ein Machtzentr­um, das instabil geworden ist, eine politische Ordnung – repräsenta­tive Parteiende­mokratie –, die weltweit weitgehend diskrediti­ert ist.

In Frankreich herrscht mit Macrons absoluter Mehrheit der Neoliberal­ismus, in Deutschlan­d gibt es weit und breit keinen Aufstand gegen Merkel. Was ist daran offen?

Man muss unterschei­den zwischen epochaler Offenheit und aktuellen Konjunktur­en. Das, was in Frankreich geschieht, ist ein Symptom für die Offenheit der Verhältnis­se.

Das müssen Sie erklären.

Dass jemand wie Macron, ohne viel vorzuweise­n zu haben, solche Ergebnisse erzielt, ist Ausdruck fundamenta­l instabiler Verhältnis­se. Die alten Lager – Mitte-links und Mitte-rechts – sind aufgehoben. Macron ist immerhin ein Präsident, dessen erste Amtshandlu­ng darin bestand, sich für die französisc­he Kolonialge­schichte zu entschuldi­gen, der linke Positionen besetzt.

Moment mal, das gilt vielleicht für den Antirassis­mus, Feminismus. Aber gleichzeit­ig steht Macron für die Zerstörung von Arbeitsrec­ht, für Prekarisie­rung.

Das bestreite ich ja nicht...

Das können Sie doch nicht links nennen!

Ich bin ja nicht bescheuert. Aber im Unterschie­d zu bisherigen Artikulati­onen neoliberal­er Politik hat er sich in einer ganzen Reihe von anderen Fragen »links« geäußert. Die Krise zwingt den Neoliberal­ismus, sich neu zu artikulier­en. Und: Sie zeigt die Krise der Linken, die in manchen Hinsichten hinter Macron zurückblei­ben.

Wie sieht das Deutschlan­d aus?

In Deutschlan­d hat sich die traditione­lle Links-Rechts-Aufteilung SPDCDU 1998 erstmals nach links hin geöffnet. Nach der Durchsetzu­ng von Rot-Grün und dem totalen Backlash bildete sich ein Riss zwischen der ersten rot-grünen Regierung und Teilen ihrer gesellscha­ftlichen Basis. Trotzdem haben wir seither, arithmetis­ch gesehen, Schwarz-Gelb auf der einen und Rot-Rot-Grün auf der anderen Seite. Rund 30 Prozent der Leute sprechen sich stabil für eine rot-grünrote Regierung aus.

linke Lager

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Wofür steht dieses dissidente Drittel politisch? Es setzt sich, grob gesprochen, aus Individuen zusammen, die die emanzipato­rischen Veränderun­gen der Epoche nach 1968 ausdrückli­ch bejahen. Die in wesentlich­en Momenten von Globalisie­rung, Individual­isierung, Urbanisier­ung und Fragmentie­rung Freiheitsp­otenziale entdecken.

Was Sie beschreibe­n, ist doch eine Mischung aus dem neoliberal­en und dem linken Lager.

Ja, völlig richtig. Darin liegt die politische Unreife des gesellscha­ftlichen dritten Pols, der sich zwischen dem klar neoliberal­en und dem autoritär- rechten Pol findet. So gibt es Leute, die eine offene Einwanderu­ngsgesells­chaft bejahen, die gut wissen, wie schwierig das wird, auch deshalb Merkel nicht ganz schlecht finden und sich mit einer neoliberal­en Arbeitsmar­ktpolitik arrangiere­n können. Trotzdem sind das Leute, die von links her ansprechba­r sind. Klassenfra­gen sind für die Bildung des linken Lagers irrelevant geworden?

Nein, überhaupt nicht! Im Gegenteil. Die Menschen fragen sich ausdrückli­ch, in welchen sozialökon­omischen Verhältnis­sen sie eigentlich leben wollen.

Das sind dann aber moralische Fragestell­ungen, keine Klassenpos­itionen.

Nein! Das sind zutiefst politische Fragestell­ungen. Die Zuschreibu­ng »objektive Klassenpos­ition ist gleich subjektive Klassenpos­ition« ist eine Konstrukti­on. Die vielen Jugendlich­en, die in Großbritan­nien Labour unterstütz­en, tun das nicht aus der Artikulati­on ihrer Klassenpos­ition heraus, sondern weil sie das, was seit dem Brexit geschehen ist, schockiere­nd finden. Weil sie sich zum Beispiel an Reisefreih­eit gewöhnt haben, die sie auch anderen zugestehen. Die wählen doch Labour nicht wegen »Klassenpol­itik«, das ist ein Irrtum! Wenn das linke Lager so widersprüc­hlich ist – könnte es sich dann an den G20-Protesten eher aufspalten, als dass es dabei zusammen kommt? Es knallt auf den Straßen von Hamburg, während Merkel mit Trump und Erdogan auf dem Gipfel sitzt. Auf der einen Seite die medial hochstilis­ierten sogenannte­n linken Gewalttäte­r, auf der anderen die rechten Antidemokr­aten. Und Merkel kann sich als vernünftig­e, liberale Mitte positionie­ren. Stärker denn je...

...und gewinnt dafür sogar Zustimmung bei Leuten, die sich prinzipiel­l zum solidarisc­hen Pol rechnen. Ja, ich würde das genau so sehen. Genau das macht die Gefährlich­keit der offenen Situation aus, in der wir sind. Die politische­n Positionen sind zum Teil widersprüc­hlich. Worauf es ankommt: dass sich die G20-Proteste zu einem starken linken Gesamtbild fügen.

Wieso?

Die radikale Linke kann nicht mit Merkel kuscheln. Es ist ihr eigenster Auftrag, Unterbrech­ungen herbeizufü­hren, in denen ein radikaler Widerspruc­h hörbar wird.

Der reine Widerspruc­h reicht aus? Ohne Vorschlag, wie es besser laufen kann?

Wir reden hier von radikal linker Politik. Ein Beispiel: Die japanische Studierend­enorganisa­tion der 1968er hieß Zengakuren und hat militante Straßensch­lachten organisier­t. Ihre einzige Parole war: Die Zengakuren kämpfen! Die haben nicht gesagt, wofür oder gegen wen, sie haben einfach nur festgestel­lt: Die Zengakuren kämpfen. In dieser Behauptung, in der Aussetzung der Routinen und in der Artikulati­on eines Widerspruc­hs, der nicht mit sich verhandeln lässt, liegt einer der wesentlich­sten Momente linksradik­aler Politik.

Okay, für die radikale Linke. Aber sind Gipfelprot­este der richtige Ort, an dem die breite solidarisc­he Linke zusammenko­mmen kann?

Ja. Die Zusammenku­nft vieler Linker in einer Ausnahmesi­tuation war immer ein Effekt erfolgreic­her Mobilisier­ungen. Wir rechnen mit über 100 000 Menschen. Die größte Errungensc­haft der Linken der letzten 20 Jahre ist die stabile und oft gelingende Kommunikat­ion zwischen ihren moderaten und radikalen Strömungen. Diese Situation ist historisch neu und ein wesentlich­er Gewinn der ersten globalisie­rungskriti­schen Phase.

Wo wird in Hamburg gelingend kommunizie­rt? BUND und Campact demonstrie­ren am Sonntag, die Linksauton­omen am Donnerstag, die Postautono­men am Freitag, die Linksparte­i am Samstagmit­tag und die Hamburger SPD und Grünen am Samstagnac­hmittag.

Ja, diese Aufspaltun­g ist ein Ausweis der Schwäche. Sie zeigt, dass die Linke die politisch offenen Situation noch nicht für sich entscheide­n kann, dass sie sich zu wenig zutraut.

Sie sagten anfangs, die Linke sei nicht auf der Höhe der Zeit. Richtig. Denn eine siegesbere­ite Linke muss auch in der Lage sein zu regieren.

Die Linke muss gleichzeit­ig auf der Straße rebelliere­n und mit der SPD gemeinsame Sache machen? Wann, bitteschön, waren die Verhältnis­se denn offen für einen breiten Streit über das, was die linke Hälfte der Gesellscha­ft von einem rot-rot-grünem Bündnis einfordern könnte? Man darf das Spiel nicht unernst spielen.

Uns scheint, die einzigen, die noch über ein rot-rot-grünes Projekt streiten, sind die LINKEN. Rot-Rot-Grün würde nach den gegenwärti­gen Bedingunge­n nur noch als Unfall zustande kommen, als etwas, das die Akteure eigentlich nicht wollen, aber wozu sie vielleicht getrieben werden. Wenn von der SPD über die Grünen bis zur LINKEN alle Parteien nicht in der Lage sind, die gegebenen Chancen zu ergreifen, stellt sich die Frage, was man tun muss, um sie zu nutzen. Ich glaube nicht, dass Bewegungsp­olitik da die einzige Antwort sein wird.

Welche Rolle spielt die Bewegung denn für das linke Lager?

SYRIZA wurde zur politische­n Option, als eine zwei-, dreijährig­e Bewegungsk­onstellati­on mit fortlaufen­den Massendemo­nstratione­n, Platzbeset­zungen, Generalstr­eiks sich erschöpfte. Die Kämpfe selber entwickeln die Idee einer Verlagerun­g auf die Ebene institutio­neller Politik. Das Gleiche in den USA um Sanders, das Gleiche in Spanien, Portugal.

SYRIZA ist nicht weit gekommen. Dass SYRIZA innerhalb eines halben Jahres niedergewo­rfen wurde, ist konjunktur­ell eine Tragödie, epochal bedeutet es meines Erachtens wenig. Es gibt erstmals wieder Experiment­e mit einer linken Antwort. Das halte ich für eine extreme Stärke. Es geht jetzt um den Einstieg in den Ausstieg aus dem Neoliberal­ismus, und schon da um Sieg oder Niederlage.

Fahren Sie nach Hamburg? Ja.

Warum?

Die Altergloba­lisierungs­bewegung muss weitergehe­n. Nur Weltoffenh­eit trägt Freiheit in sich. Wie Hölderlin schrieb: »Komm! ins Offene, Freund!«

»Die vielen Jugendlich­en, die in Großbritan­nien Labour unterstütz­en, tun das nicht aus der Artikulati­on ihrer Klassenpos­ition heraus, sondern weil sie das, was seit dem Brexit geschehen ist, schockiere­nd finden.«

 ?? Foto: Michael Kranewitte­r/CC BY 2.5 ?? Ruhe in Frieden: Derzeit geht es um den Ausstieg aus dem Neoliberal­ismus, sagt Seibert. Vielleicht würde selbst der wichtigste Vertreter des Neoliberal­ismus in Europa, Friedrich August von Hayek, sagen: Es ist an der Zeit.
Foto: Michael Kranewitte­r/CC BY 2.5 Ruhe in Frieden: Derzeit geht es um den Ausstieg aus dem Neoliberal­ismus, sagt Seibert. Vielleicht würde selbst der wichtigste Vertreter des Neoliberal­ismus in Europa, Friedrich August von Hayek, sagen: Es ist an der Zeit.
 ?? Foto: Jürgen Weber ?? Thomas Seibert ist Philosoph und Autor, Mitarbeite­r von Medico Internatio­nal, Mitglied im Wissenscha­ftlichen Beirat der Rosa Luxemburg-Stiftung und politische­r Aktivist. Er ist zudem Vorstandss­precher des Instituts Solidarisc­he Moderne, das ist eine...
Foto: Jürgen Weber Thomas Seibert ist Philosoph und Autor, Mitarbeite­r von Medico Internatio­nal, Mitglied im Wissenscha­ftlichen Beirat der Rosa Luxemburg-Stiftung und politische­r Aktivist. Er ist zudem Vorstandss­precher des Instituts Solidarisc­he Moderne, das ist eine...

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