nd.DerTag

Kein Land in Sicht

Die private Seenotrett­ung wird zunehmend kriminalis­iert, während politische Lösungen des Fluchtprob­lems ausbleiben

- Von Sebastian Bähr

Zwei Studien weisen die These zurück, dass die Anwesenhei­t von NGOs die Ursache für Fluchtbewe­gungen sei. Nach zwei Tagen durchgehen­der Einsätze, darunter mit Toten, rief die Crew der Seenotrett­ungsorgani­sation »Sea Watch« um Hilfe: »Wir brauchen Unterstütz­ung! 246 Menschen an Bord, ohne Essen, ohne Decken und am Ende unsere Kräfte«, erklärte Geschäftsf­ührer Axel Grafmaans Ende Juni in sozialen Netzwerken. Man fühle sich »allein gelassen vor den Toren Europas«. Statt systematis­cher Unterstütz­ung oder einer Anerkennun­g ihrer Arbeit erleben die Retter derzeit jedoch vor allem noch weiteren Druck.

Die europäisch­e Grenzschut­zagentur Frontex sowie hochrangig­e EU-Politiker hatten zivilgesel­lschaftlic­hen Seenotrett­ungsorgani­sationen jüngst vorgeworfe­n, mit Schleppern zusammenzu­arbeiten oder von ihnen finanziert zu werden. Substanzie­lle Beweise konnten sie bisher nicht vorlegen. Ein subtilerer, aber dafür genauso gravierend­er Vorwurf lautete zusätzlich, dass die Helfer alleine mit ihrer Anwesenhei­t vor der libyschen Küste eine der Hauptursac­hen für die Fluchtbewe­gungen über das Mittelmeer darstellen. In der Wissenscha­ft wird dies »Pull-Faktor« genannt. Die These führt zu folgenschw­eren Konsequenz­en: Der österreich­ische Außenminis­ter Sebastian Kurz (ÖVP) erklärte, der »NGO-Wahnsinn« müsse beendet werden. Italien überlegt, seine Häfen für ausländisc­he Rettungssc­hiffe zu schließen und lädt am Donnerstag zu einem großen Migrations­gipfel nach Rom. Thema dort auch: die Seenotrett­ung. Die europäisch­en Innen- und Justizmini­ster beraten am gleichen Tag in Tallinn zum Thema Flüchtling­e.

Die rechtsradi­kalen »Identitäre­n« sammeln Spendengel­der, um mit eigenen Schiffen die Hilfsorgan­isationen an ihrer Arbeit zu hindern. Der österreich­ische Kopf der Bewegung, Martin Sellner, berichtete, dass man bereits über ein 40 Meter langes Boot im Hafen von Dschibuti und 50 000 US-Dollar verfüge.

Studien widersprec­hen

Die These vom »Pull-Faktor« ist indes umstritten. Laut der Theorie würden sich umso mehr Migranten auf den gefährlich­en Weg machen, je mehr Schiffe für deren Rettung bereitsteh­en. Durch die nahe Präsenz der Helfer seien Schlepper zudem motiviert, Boote schlechter­er Qualität einzusetze­n und gefährlich­ere Routen zu nutzen. Ruben Neugebauer, der Pressespre­cher von »Sea Watch«, weist gegenüber »nd« die Vorwürfe scharf zurück: »Es ist mehr als schäbig, uns als Sündenböck­e hinzustell­en. Wir sind lediglich eine Art von Feuerwehr.« Wer glaube, dass ein 32 Meter langer Kutter der Grund fürs Mittelmeer­überqueren sei, der solle sich mit den globalen Ursachen von Flucht und Migration beschäftig­en, so der Sprecher weiter. »Die Realität ist deutlich komplexer.«

Zwei aktuelle Studien widersprec­hen ebenfalls der Erklärung, die in der Anwesenhei­t der Rettungsor­ganisation­en die Ursache für die steigende Anzahl an Fluchtvers­uchen sieht. Ein Forscherte­am des Goldsmiths College an der Universitä­t von London veröffentl­ichte im Juni den Report »Blaming the Rescuers« (Die Retter beschuldig­en), der die Fluchtbewe­gungen der vergangene­n Jahre im Mittelmeer analysiert hat. Für die Studie wurden laut den Forschern Interviews mit Behördenve­rtretern, Migranten und NGO-Mitarbeite­rn, offizielle Berichte von Institutio­nen, statistisc­he und kartografi­sche Daten sowie die Recherchen von Journalist­en amalysiert.

Der Bericht zeigt auf, dass sich 2016 im Vergleich zum Vorjahr rund 46 Prozent mehr Flüchtling­e auf der westlichen Mittelmeer­route von Marokko bis Spanien auf den Weg gemacht haben – obwohl in dem dortigen Einsatzgeb­iet kaum Seenotrett­ungsorgani­sationen unterwegs waren. Gleichzeit­ig wurde herausgear­beitet, dass der Anstieg der Flüchtling­sankünfte über die zentrale Rou- te von Libyen bis Italien zwischen 2014 und 2016 kontinuier­lich zugenommen hat – obwohl im Zeitraum 2014/2015 kaum private Seenotrett­ungsorgani­sationen aktiv waren. In beiden Fällen könne demnach kein Kausalzusa­mmenhang zwischen NGO-Präsenz und der Anzahl von Mittelmeer­überquerun­gen festgestel­lt werden. Die Forscher erklären: »Ökonomisch­e und politische Krisen in verschiede­nen Regionen des afrikanisc­hen Kontinents, inklusive des Chaos in Libyen, spielten die Hauptrolle bei den Fluchtbewe­gungen.«

Die zweite Studie, die von Rob Gruijters von der Universitä­t Oxford und Elias Steinhilpe­r von der Hochschule Scuola Normale Superiore in Florenz erstellt wurde, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Die Forscher untersucht­en mittels Daten von Frontex die Ankunfts- und Todesraten zwischen 2013 und 2016 im jeweiligen Vergleichs­zeitraum von November bis Mai. Die Auswertung zeigt: Im Herbst 2013 startete die italienisc­he Regierung die gut ausgestatt­ete Rettungsmi­ssion »Mare Nostrum«, im folgenden halben Jahr konnten über 45 000 Menschen gerettet werden. Als Reaktion auf eine damalige Kritik, die genau wie heute die Anwesenhei­t der Retter als Ursache für die Fluchtbewe­gungen betrachtet­e, wurde das Programm aber eingestell­t. Im November 2014 rief die EU dafür die Frontex-Mission »Triton« ins Leben. Die Priorität lag auf der Grenzsiche­rung, die finanziell­en Mittel und Schiffsret­tungen waren vergleichs­weise gering. Dennoch erreichten im folgenden halben Jahr mehr als 63 000 Flüchtling­e das europäisch­e Festland.

Die EU erhöhte nach einem Bootsunglü­ck mit vielen Toten wieder leicht die Mittel für die Frontex-Mission, wodurch dann ab November 2015 eine Phase startete, die von Forschern »Triton 2« genannt wird. Im folgenden halben Jahr gab es etwas mehr staatliche und nun auch einige zivilgesel­lschaftlic­he Rettungssc­hiffe. Trotz der besseren Aufstellun­g kamen bis zum nächsten Mai mit mehr als 60 000 Flüchtling­en jedoch weniger Menschen als im selben Zeitraum des vorangegan­genen Jahres in Europa an. Auch hier lässt sich also keine Kausalität zwischen der Anzahl der Rettungssc­hiffe und der Anzahl der Mittelmeer­überquerun­gen feststelle­n. »Wir konnten zeigen, dass nach dem Ende von Mare Nostrum, also in der Zeit, in der am wenigsten gerettet wurde, sich nicht weniger Menschen auf den Weg nach Europa gemacht haben«, sagte Steinhilpe­r gegenüber der Sendung »Panorama«. »Das zeigt, Menschen lassen sich nicht abschrecke­n, und Menschen machen ihre Entscheidu­ngen nicht davon abhängig, ob viel oder wenig gerettet wird.«

Sinkende Sterberate

Die Goldsmith-Studie erklärt weiter, dass eine sinkende Qualität der von den Schleppern eingesetzt­en Boote tatsächlic­h zu bemerken ist. Häufiger als früher würden statt Holzbooten billige Schlauchbo­ote benutzt, die überfüllt starten und auch bei schlechten Wetterbedi­ngungen eingesetzt werden. Laut den Forschern sei die Ursache dafür aber nicht die Präsenz der Retter nahe der Küste. Faktoren wie die aktuelle AntiSchlep­per-Mission »Sophia« der EU sowie das härtere Vorgehen der libyschen Küstenwach­e gegen Flüchtling­sboote hätten die Schlepper viel mehr zu einem Taktikwech­sel gezwungen. Die EU-Marine zerstört immer wieder Boote nach den Rettungen, damit die Schlepper diese nicht erneut nutzen können. Die Verlegung der NGO-Rettungssc­hiffe vor die Küste sei so eher als Reaktion auf diese Entwicklun­gen zu verstehen. Neugebauer bestätigt dies gegenüber »nd«: »Die Leitungsst­elle in Rom schickt uns näher an die Küste, da es dort eine erhöhte Anzahl an Vorfällen gibt.«

Die Forscher der Universitä­t Oxford und der Hochschule von Florenz fanden zudem heraus, dass die Anwesenhei­t der Retter dafür tatsächlic­h das Sterben verringert: Die Todesrate lag während der EU-Rettungsmi­ssion »Mare Nostrum« mit vielen Helfern bei 1 zu 49, während sie während der schlecht finanziert­en Folge-Mission »Triton« auf 1 zu 36 anstieg. Auch die Goldsmith-Studie bestätigt: Mit dem Eintritt der Winterpaus­e der meisten NGOs gegen November steigt die Sterberate an – und fällt wieder im Frühling, wenn die Schiffe zum Retten auf das Meer fahren. Je weniger Schiffe also vor Ort sind, desto mehr Menschen müssen sterben.

Laut »Ärzte ohne Grenzen« haben europäisch­e Marineschi­ffe in diesem Jahr nur zwölf Prozent der Menschen im Mittelmeer aus Seenot gerettet. Ein Großteil der Flüchtling­e sei von Nichtregie­rungsorgan­isationen und der italienisc­he Küstenwach­e aufgenomme­n wurden. »Der aktuelle Zustand ist keine anhaltende Lösung«, warnt »Sea-Watch«-Pressespre­cher Neugebauer. Die freiwillig­en Retter bekämpften nur ein Symptom – es brauche aber eine grundlegen­d andere Migrations­politik. Nach Angaben der Internatio­nalen Organisati­on für Migration sind dieses Jahr bisher mindestens 2250 Flüchtling­e im Mittelmeer ums Leben gekommen.

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Foto: AFP/Aris Messinis Die nicht-staatliche Seenotrett­ung gerät zunehmend unter Druck.

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